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Für welche Werte leben wir?

Appelle drohen stets moralisierend zu werden, wenn sie nur den Verstand des Menschen ansprechen. Sie drohen pathetisch zu werden, wenn sie nur das Herz des Menschen erreichen wollen. Appelle scheinen generell ungerecht zu sein, denn sie versuchen die Leidenschaft wieder zum Leben zu erwecken, die den Tod der tausend kleinen Tode gestorben ist. Appelle versuchen gerade diesem Mechanismus des tausendfachen „Aber“ zu entkommen, um Ideale und Werte wieder in Erinnerung zu rufen.

Unsere zur Gleichgültigkeit degenerierte Gelassenheit ist es, die den leidenschaftlichen Appell hervorruft. Unser sich nicht einfach mit den Umständen abfinden wollen und können ist es, das den leidenschaftlichen Appell bedingt. Unsere humanen und demokratischen Werte sind es, denen wir überhaupt die Möglichkeit zum öffentlichen Appell verdanken.

Wenn ein Parlament sich selbst abschafft, dann ist dies zwar der legitime Gebrauch einer Möglichkeit, die aus ebendenselben Errungenschaften der demokratischen Moderne resultiert. Im gleichen Augenblick werden diese Errungenschaften jedoch im Zuge eines solchen Aktes mit abgeschafft. Ist das wirklich erstrebenswert? Sind das nicht ein reiner Seinsfatalismus und die daraus resultierende Selbstpreisgabe der eigenen Würde? Denn genau dies ist die Haltung der Gleichgültigkeit, die Usurpatoren, Despoten und Autokraten an die Macht bringt und sie dort am Leben hält. Kann uns das wirklich gleichgültig sein?

Sind wir heutzutage nicht in einem Neo-Biedermeier angekommen, das sich in einer normopathischen Angleichung dem Diktat eines wie auch immer gearteten Außen unterwirft und sich gleichzeitig in den schizophrenen Schein einer Harmonie flüchtet, in der man sich wie ein kleines Kind die Augen zuhält und sagt: „Du siehst mich nicht, du siehst mich nicht!“? Wenn die ganze Welt für mich schon nicht mehr als mein Wille und meine Vorstellung erlebbar wird, dann zumindest meine Freizeitgestaltung und mein Kaufverhalten, das mir die sofortige Umsetzung aller Träume ermöglicht. Doch haben wir noch Träume? Ist dieses Neo-Biedermeier nicht vielmehr ein einziger traum- und visionsloser Krampf, bei dem wir uns gegen die Anfragen einer globalisierten Welt abschotten, so gut wir eben können? Dass Mauern, Zäune oder eiserne Vorhänge noch nie dazu beigetragen haben, Probleme zu lösen hat die Welt immer wieder gesehen. Dass Angst kein guter Ratgeber ist, zeigt sich sowohl im Privatleben als in der Politik. Dass alle möglichen Brexits, Öxits und sonstige Exits die Kluft nur immer weiter aufreißen, müsste jedem halbwegs vernünftigen Menschen einsichtig sein.

Es ist unsere Aufgabe, Grenzen aufzuzeigen: Denjenigen, die Mauern zwischen Menschen errichten, denjenigen, die andere ausbeuten und unterdrücken, denjenigen, denen andere Leben und Lieben egal sind. Es ist unsere Aufgabe, Grenzen aufzuzeigen: Nein, wir lassen nicht alles mit uns machen! Nein, wir nehmen nicht einfach alles so hin! Nein, wir lassen uns nicht in Schemata hineinpressen! Nein, wir lassen uns nicht zu einer unmündigen Masse degradieren, die sich mit Brot und Spielen zufriedenstellen lässt! Es ist unsere Aufgabe, uns unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entledigen!

Wie aktuell sind die von Immanuel Kant 1784 geschriebenen Worte noch heute:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen, dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.“

Widersetzen wir uns also dem Druck von Unterdrückern, die nur sich selbst gelten lassen, und andere diskriminieren, widersetzen wir uns dem Druck einer Wirtschaft, die nur sich selbst, aber nicht dem Leben dient, widersetzen wir uns einer Politik, die nur Ängste bedient und Vorurteile schürt, widersetzen wir uns visionslosen Politikern, die uns in den Sumpf ihrer eigenen Destruktivität hineinziehen.

Denn: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“

Unsere eigenen Bedürfnisse zählen genau so viel wie die Bedürfnisse jedes „Anderen“, unsere Unzulänglichkeiten wiegen genauso viel wie die Unzulänglichkeiten jedes „Anderen“. Die Welt ist groß genug, reich genug und schön genug, um allen Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen! Es ist an uns, diese Werte wachzuhalten und in die Tat umzusetzen.

Werte, die Menschen gegen Nationalsozialismus und Faschismus verteidigt haben,
Werte, die Menschen gegen den Kommunismus mit ihrem Leben verteidigt haben.
Werte, die Menschen gegen jede Bevormundung und gegen jede Gleichschaltung mit ihrem Leben verteidigt haben.

Es geht nicht um Ideologien und Religionen, sondern um die Achtung von Mensch zu Mensch, um die Ehrfurcht vor dem Leben in all seinen Facetten, um die Ehrfurcht vor unseren Idealen. Letztlich geht es um die Ehrfurcht vor uns selbst!
Europa muss der Vorreiter eines Kosmopolitismus sein, der die Zukunft unserer Welt bestimmt. Wir sind erst dann wahrhaft europäisch, wenn wir wahrhaft kosmopolitisch sind. Auch wenn die Welt nie vollkommen sein wird, weil wir Menschen nun einmal unvollkommen sind, so dürfen wir doch niemals auf die Utopie einer wahrhaft humanen Menschheitskultur vergessen!

Werden wir wieder leidenschaftliche Menschen und lösen uns aus der Lethargie einer Selbstvergessenheit, die nur das Ihre betrachtet und das Du nicht mehr sieht! Werden wir wieder leidenschaftliche Menschen und lösen uns von der Sorglosigkeit im Umgang mit einer schon viel zu lange von uns malträtierten Schöpfung! Werden wir wieder leidenschaftliche Menschen, die gelassen in eine Zukunft blicken können, die wir unseren Kindern und Enkeln gerne übergeben wollen!

Menschen aller Länder vereinigt euch!
Werdet, was eure Berufung ist, werdet wahrhaft Menschen!

Michael Anderl

Gast

One Comment

  1. Die Zeiten sind wirr und es kann schon wehtun, einfach mal Nachrichten zu schauen. Trotz alledem: Wenn die Lage fatal ist, ist die Zeit für eine Veränderung am günstigsten!

    Menschlichkeit statt Gier und Abgrenzung – Solidarität statt Einzelkämpfertum – kämpft zärtlich, witzig und gemeinsam für eine bessere Welt!

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