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Aufschneiden oder Anfechten. Das ist hier die Frage.

c wienerzeitung

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Wir Österreicher und Österreicherinnen erleben derzeit ein unfreiwillig komisches Schauspiel: Der Verfassungsgerichtshof seziert quasi mit der Genauigkeit eines Mikrochirurgen und der investigativen Präzision einer Special-Task-Force des CSI den Wahlvorgang rund um die Auszählung der Stichwahl der Bundespräsidentenwahl. Dabei lernt man allerhand. Zum Beispiel über das Schlitzen, pardon, das Aufschneiden von Briefwahlkuverts. Mit handelsüblichem Aufschneiden hat das nichts zu tun. Eine Wahlkarte wird in der Regel von einem technischen Gerät geöffnet ergo geschlitzt. Das geht so schnell, glatt und sauber, dass ein händisches Herausnehmen des Stimmzettels sofort auffallen würde. Aha. Tatsächlich scheint es sich bei der von der FPÖ betriebenen Wahlanfechtung augenscheinlich gleichfalls um eine riesige Schlitzaktion oder besser Aufscheiderei zu handeln.

Denn außer besagter Erkenntnis über das Schlitzen (das übrigens mit den eigens dafür verwendeten Maschinen die Möglichkeit von Manipulationen beim Auszählen geradzu ausschließt), Einzelheiten über das Jausen- und Brotzeit-Bedürfnis von Wahlbeisitzern oder der Tatsache, dass ehrenamtliches Beisitzen an einem handelsüblichen Werktag eben für praktisch alle Werktätigen Menschen nicht möglich ist (wow!), ist schlichtweg nichts herausgekommen. Null. Njet. Nada.
Dieses Nichts haben wir dafür aber nun auf hunderten Seiten Protokoll des Verfassungsgerichtshofes fein säuberlich und für alle Ewigkeit dokumentiert. Der betriebene Aufwand und die Kosten sind enorm (wie hoch eigentlich, liebe FPÖ?).

Eine komplette und normalerweise mehrwöchige Sitzung des Gerichtshofes musste extra verschoben und sämtliche 14 VerfassungsrichterInnen mit ausschließlich dieser Angelegenheit betraut werden. Mediales Tamtam und Trara inklusive. Ein solcherart geplantes Drehbuch für eine vorsommerliche Gratis-Kampagne mit Dauermedienpräsenz ohne Ende hätte sich die FPÖ selbst wohl gar nicht ausdenken können.

Ok, liebe Verfassungsrichter, man kann natürlich die Ansicht vertreten, Regeln sind Regeln, und Regeln sind in unserer Form- und Norm-fixierten Welt natürlich anstandslos zu befolgen. Und weil die komplizierten Regeln des Bundespräsidentenwahlgesetzes nicht österreichweit und flächendeckend bzw. juristisch akribisch und buchstabengetreu eingehalten wurden, ist dieses Wahlergebnis nicht rechtskonform zu Stande gekommen, wie das auf Juristendeutsch so schön heißt. Sorry, aber das haben wir schon vorher und nach seriösen Informationen der Wahlbehörde des Innenministeriums gewusst.

Der Punkt ist: Ob eine Wahlkarte (eine gültig abgegebene Stimme) am Sonntag um 23:00 oder am darauffolgenden Montag um 08:43 oder um 09:11 ausgezählt wird, macht für das Ergebnis wahrlich keinen Unterschied. Und ob ein Wahlbeisitzer dabei sitzt oder nicht, wenn Stimmen ausgezählt werden, ist im Endeffekt auch irrelevant (sonst könnte ja eine Partei auch auf die Idee kommen, eine Wahl durch Verweigerung der Entsendung von Beisitzern diese zu boykottieren). Im Endeffekt zählt, was der Hausverstand (nicht der von Billa) sagt: ist das Ergebnis wasserdicht und somit fälschungssicher. Ja oder Nein. Die Wahrscheinlichkeit bzw. die Möglichkeit von Manipulationen, also absichtlichen Verfälschungen des Wahlergebnisses, liegen aber bei praktisch 0,0 Prozent. Siehe Schlitzmaschine und Co, was wiederum mit einer latenten Angst heimischer Beamter vor Fehlern und deren Folgen für ihr Arbeitsleben zu tun haben könnte. Denn bevor bei einem „Amtsvorgang“ wie einer Wahlauszählung etwas falsch gemacht wird, wird vermutlich eher gar nichts oder bei Gefahr im Verzug eben „Meldung nach oben“ gemacht. Und wenn ein Gesetz in der Praxis nicht oder kaum vollziehbar ist aber „von oben“ Druck ausgeübt wird, ein Ergebnis zu liefern, und das bitte rasch?

Ja, liebe Aufschneider von der FPÖ, dann greifen dienstbeflissene und findige österreichische Beamte zu einer Waffe, die sie höchst selten auspacken müssen: Kreativität und, pfui, Eigeninitiative. Ja, man glaubt es kaum, aber bevor es kein Wahlergebnis gibt und man „von oben“ gescholten wird, sehen sich heimische Beamte veranlasst, von sich aus tätig zu werden. Es ist ein Wahnsinn, es ist ein kafkaeskes Paradoxon, aber ist es deshalb auch gleich eine Schlamperei oder ein bösartiger Rechtsbruch oder eine absichtliche Wahlmanipulation?

Worüber wir seit Tagen, ja seit Wochen, reden bzw. von einer publicity-geilen Partei ohne Verantwortungsbewusstsein und Skrupel gezwungen werden zu reden, ist nichts anderes als eine Mischkulanz aus der österreichischen Urtugend der Gemütlichkeit mit einer zugegeben kaum für möglich gehaltenen Überkorrektheit der heimischen Bürokratie. Schimpfen über Beamte ist ja so etwas wie ein österreichischer Volkssport. Aber hat sich einmal jemand die Mühe gemacht, darüber nachzudenken, warum wir so gerne darüber schimpfen? Weil Beamte eben alles sehr genau nehmen, das Gesetz und die Einhaltung von Paragraphen und Formeln oft sogar über den zwischenmenschlich korrekten Umgang mit den Bürgern stellen.

Auf gut österreichisch: vorauseilender Gehorsam und der wiederum hat sehr viel mit Angst vor Dienstkonsequenzen zu tun. Es ist eigentlich perfide, wenn der Herr Innenminister diese beamtete Grundeinstellung nun als wilde Schlamperei kritisiert und seinen Mitarbeitern damit (aus politisch-opportunen Gründen) in den Rücken fällt.

Es ist irgendwie grotesk, dass ausgerechnet die selbsternannten Hüter der(freilich erfundenen) „österreichischen Leitkultur“ unsere Sitten und Gebräuche – noch dazu mit Hilfe von juristischen Spitzfindigkeiten – nachhaltig, also für alle Zukunft, in Frage stellen und aushebeln wollen, um ein ihnen unangenehmes Wahlergebnis aus dem Weg zu räumen. Es wird der FPÖ aber nicht gelingen, denn schließlich ist Österreich spätestens seit Metternich kein Kaiserreich mehr, sondern eine (nunmehr eben demokratische) Bürokratie!

Die Herren und Frauen Verfassungsrichterinnen müssen eine schwierige Entscheidung treffen. Das ist klar. Und in Zukunft wird es wohl mit der Gemütlichkeit und Lockerheit bei Stimmauszählungen auch vorbei sein. Nachdem CSI VfGH aber nicht besonders viel außer ein paar irrelevanten Brotkrümmeln gefunden hat, sollte man die Kirche auch bei der Bundespräsidentenwahl im Dorf belassen. Eine Neuwahl wäre Zeit- und Geldverschwendung.

Johann Alexander

Gast

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