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Weihnachtsgeschichte

Melauner schenkte Neumeier zu Weihnachten zerbrochene Vanillekipferln, deren Aufbrauchsdatum schon lange abgelaufen war und die er am hiesigen Sozialmarkt kostengünstig erstanden hatte. Melauner hatte zu Neumeier gesagt: „Die schenk ich dir jetzt, weil du so ein netter Mensch bist.“ Ebenso schenkte Melauner Neumeier eine Packung ebenfalls bereits abgelaufenen Filterkaffees, ein paar Bonbonieren, ebenfalls abgelaufen und am Sozialmarkt erstanden und obendrein noch eine Packung ebenfalls abgelaufener Müsliriegel. Darauf hatten sich Melauner und Neumeier noch mit einem Glas Eierlikör „Frohe Weihnacht!“ zugeprostet, dieses ex ausgetrunken und an die Wand geworfen.

Dann hatte Neumeier die Geschenke, die ihm Melauner alle in einen Plastiksack gegeben hatte, an sich genommen, Melauner noch freundlich die Hand geschüttelt und war gegangen. Er war im leichten Schneegestöber zum Bahnhof geeilt, in den Zug gestiegen, der ihn zurück nach S. brachte. Im Zug waren fast keine Leute, wahrscheinlich weil Heiliger Abend war. Und auch in S. erwartete Neumeier nichts als leichtes Schneegestöber. Gern hätte er zu einer jungen Frau, die seinen Weg gekreuzt hätte, gesagt, „Darf ich dir den Schnee aus deinen Haaren küssen?“ Und die junge Frau hätte es ihm vielleicht sogar erlaubt, aber nur, weil heute Heiliger Abend war, und Neumeier hätte sie dann vielleicht noch „süße kleine Schneemaus“ genannt und wäre weitergegangen mit einem seligen Lächeln auf seinen von Schneeflocken bedeckten Lippen. Da er aber bei seinem Nachhauseweg auf keine junge Frau getroffen war, der er den Schnee aus den Haaren hätte küssen können, war er noch in ein verrauchtes Gasthaus gegangen.

Er stellte den durch das leichte Schneegestöber schon ziemlich feucht gewordenen Plastiksack mit den Geschenken Melauners unter den Tisch. Setzte sich auf den dazu gehörenden Stuhl und wartete auf die Kellnerin. Diese kam nach längerer Zeit, sie sah ebenso verraucht aus wie das Lokal.  Durch eine dicke Brille sah sie Neumeier an, fragte nichts, wartete auf seinen Wunsch. Und Neumeier schaute zuerst sie an, er dachte schon, dass sie krank war oder unendlich traurig. Bestellte schließlich, wie um die peinliche Situation zu beenden, ein Bier.

Die Kellnerin brachte ihm überraschend schnell das Gewünschte, stellte es vor ihm auf den Tisch und zog wieder ab. Neumeier schaute herum, ehe er den ersten Schluck machte. Ein paar vereinzelt an den Tischen herumsitzende Burschen spielten mit ihren i-Phons, die sie wahrscheinlich alle als Weihnachtsgeschenk  erhalten hatten. Probierten die vielen Funktionen aus und klickten sich so gegenseitig in ein digitales Nirwana hinein, aus dem zumindest manche von ihnen am Ende vielleicht gar nicht mehr herausfanden.

Neumeier amüsierte es, er griff nach dem Sack mit den Geschenken, öffnete ihn, nahm den abgelaufenen Müsliriegel heraus, packte ihn aus seiner Schachtel tauchte ihn in das Bier und biss ab. Er kaute an dem Ding, das durch das Bier in seinem Geschmack etwas rezenter wurde oder wie auch immer. Dann murmelte er: „Nächstes Jahr nicht mehr dieses Theater. Nächstes Jahr ab nach Lissabon, oder zumindest ans Meer.“ Ein an der Theke stehender Türke beobachtete ihn. Neumeier wusste nicht, wie er diesen Tag beenden sollte. Er tauchte den Müsliriegel erneut in das Bier, biss davon ab, kaute, trank Bier dazu. Die Kellnerin beäugte ihn misstrauisch durch ihre dicke Brille von der Bar herüber. Neumeier lächelte ihr zu.

©Helmut Schiestl

Helmut Schiestl

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