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Silvester im Licht

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Er fragte sich, ob es laut war und viel geknallt wurde an diesem Silvester.  Und ob er dann am besten gar nicht aus dem Haus hätte gehen sollen, um sich nicht einen Gehörschaden zu holen, wenn etwa direkt neben ihm oder vor oder hinter ihm ein Silvesterknaller losgegangen wäre. .Aber jetzt war er ja schon hier, und mit der Knallerei musste er dann klar kommen, wenn er wieder nach Hause ging.  So klappte er die Mappe auf, in der sich die Speisekarte befand. Er hörte am Nebentisch zwei Frauen sich Gespenstergeschichten erzählen. Und zwei andere am anderen Nebentisch sich gegenseitig Neujahrsvorsätze schwören. Er hätte die Kellnerin gerne zu einem Glas Champagner eingeladen, und noch lieber hätte er ihr mit seinem Kugelschreiber dabei die beiden Worte „Süße Maus“ auf ihren Arm geschrieben.  Er tat aber keines von beiden, weil die Kellnerin keine Zeit für so etwas hatte, auch keine Zeit für ein  Gespräch, welches ja erst die Voraussetzung für so etwas gewesen wäre.

So war es nur bei einem unverbindlichen Gedankenspiel geblieben. Und die Frage, wie weitermachen und wie es überhaupt weiterging mit ihm, war dann doch heftiger gewesen und hatte sich über erstere Überlegung gelegt und hatte wohl noch nach weiteren Fragestellungen verlangt. Und im Übrigen wusste er auch nicht, ob nicht der schon etwas ältere Mann, der ihm schräg gegenübersaß, nicht in den nächsten Minuten durchdrehte, so ernst sah er aus, saß allein bei seinem Bier, und viel Grobkörniges mochte durch seinen Kopf gehen. So wie auch durch seinen Kopf viel Grobkörniges ging.

Der Silberflitter am Kleid der jungen Frau, die ein paar Tische weiter saß. „Und gehen sie mit uns …“ hörte er am Nebentisch jemanden zu seinem Gegenüber sagen. Die Spiegelung im Fenster, die das normalerweise durch dieses zu Sehende verbarg und eben das darin Gespiegelte zeigte: Gesichter schemenartig verzerrt. Ein Blick, der nur durch das Licht ermöglicht wurde. Und wie dann der Vorhang fiel und alle hinausgingen und die Uhr plötzlich eine andere Zeit anzeigte. Und er darüber zu Tode erschrak.

Wie das Jahr jetzt zu Ende ging. Ohne Schnee und wohl auch ohne den um diese Zeit früher doch oft so oft vorhanden gewesen Nebel.  Also vielleicht doch als kleine Wetteranomalie. Das kleine Licht. Das Licht das alles verdunkelte, obwohl es Licht war,  schrieb er.

Zu Silvester die Fahrt mit dem Zug. Und um Mitternacht geschieht nichts. Keiner der Mitreisenden erhebt ein Glas und wünscht ein gutes Neues Jahr oder sonst was. Und keine Frau lässt sich küssen in diesem Moment. Alles bleibt ruhig, still. Warum auch? Es fehlt die Stimmung, es fehlt das Getränk, das man zwar im Speisewagen bekommen würde, zumindest falls es sich  um einen Fernreisezug handeln würde. Aber wenn es sich um einen Regionalzug handelt? Und es fehlt auch die Musik. Und im Flugzeug, und auf dem Schiff, und im Bus? Und im Auto, wenn man allein ist und durch eine einsame wenig abwechslungsreiche Landschaft fährt?

Wie das Licht zerfällt. Wie schließlich ein eng beschriebener Zettel aus seinem Notizblock herausgerissen seinen Weg über den Tisch zu einer am, Nebentisch sitzenden jungen Frau findet, so wie ein Schummelzettel in der Schule, der irgendeine Lösung auf eine gestellte Aufgabe enthielt.  Verschwörerisch vielleicht, für einen Liebesbrief zu ungenau, vielleicht auch zu unleserlich. Vielleicht auch beides.

Die junge Frau beachtet den Zettel nicht weiter, weil sie im Gespräch mit ihrem weiblichen Gegenüber – wahrscheinlich eine Freundin – vertieft ist. Ehe sie ihn schließlich in ihre Tasche steckt, ohne ihn vorher noch gelesen zu haben. Sie wird ihn später lesen, denkt er.  Oder auch nicht. Wer offenbart sich hier, fragte er sich. Und wie offenbart er sich?  Als der, der er immer schon war, oder der, der er gerne sein würde?  „Ich ist ein anderer“, schreibt Rimbaud“?

Bis er aufsteht, einen mehr oder weniger größeren Geldschein aus seiner Brieftasche zieht und damit der Kellnerin winkt. „Champagner für alle!“ dabei rufend. Oder er verteilt  Geldscheine auf den einzelnen Tischchen der Gäste, so wie Einladungsbillets oder Flyer für eine Veranstaltung, und sagt: „Nehmt und werdet glücklich!“ Und die Leute danken es ihm. Und er geht still hinaus.

© Helmut Schiestl

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Helmut Schiestl

One Comment

  1. Das Notizbuch ist tatsächlich der bessere Ort für Notizen, dort kann man nach Herzenslust beschreiben und muss das Beschreiben nicht als Beschriftung, also zu wörtlich nehmen.
    Hübsche, stille Fotos: Prost!

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