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Benedikt und die Liebe

Das Stück, das sie im Konzert gespielt hatten, war kaum zum Aushalten gewesen, sagte Benedikt und wusste doch, dass er mit seiner Meinung in der Minderheit der Konzertbesucher und Besucherinnen war. Zu Mittag hatte er seiner Arbeitskollegin ein Zeitungsfoto gezeigt, auf dem eine in die Jahre gekommene Schauspielerin zu sehen war, und Benedikt hatte gesagt, dass die genau so aussehen würde wie die Irma, die Sekretärin in ihrer Firma. Und die Arbeitskollegin meinte darauf, „ja, genau, die sieht genau so aus wie die Irma aussieht …, und beide lachten sie über diese Ähnlichkeit. Die natürlich keine war, zeugte das Antlitz der Schauspielerin doch von einem verbrauchten Leben, während das der Sekretärin eher davon zeugte, dass seine Trägerin vielleicht oder sogar wahrscheinlich zu kurz gekommen war in ihrem Leben und nicht das erreicht hatte, was sie gerne erreichen hätte wollen. Das Ergebnis allerdings war dasselbe gewesen. Darin waren sich beide Gesichter gleichgeblieben.

Benedikt war ängstlich am Abend und wartete auf das Morgen, das endlich kam nach durchzechter Nacht, die in den Tag hineinglitt. Der Abend hatte Benedikt nichts gebracht. Und trotzdem wartete er auf Neues, das nicht kam. Was hätte aber kommen sollen? Benedikt wusste es nicht. Egal, es war ein Morgen, und so blieb er bis Mittag im Bett. Erst dann stand er auf und schaute nach den Frauen, die überall waren. Also gab es noch Hoffnung, obwohl am Ende vielleicht alles untergehen mochte.

Den Untergang stellte sich Benedikt vor als einen Zustand, in dem nichts mehr ging. Kein Weihnachten mehr und kein Gasthaus mehr. Und auch kein Fernsehen. Nicht mal mehr das Radio ging, außer man betrieb es mit Batteriestrom. Was aber die wenigsten taten. Obwohl jeder Haushalt ein Transistorradio besaß, die alle ein Batteriefach für den netzlosen Betrieb hatten, ließen fast alle Haushalte ihre Radios über die Steckdose laufen, weil sie nicht ständig Batterien kaufen wollten. So aber blieb jetzt alles stehen und man sah sich nur mehr mit Schweigen und Stummheit in die Augen. Und Stille herrschte überall. Zu Beginn wuselten die Menschen noch durch die Gegend, erst als sie sahen, dass es für sie kein Ziel mehr gab, verlangsamten sie ihre Schritte und krochen am Ende nur mehr durch die Straßen und über die Plätze, so als drohte auch ihnen mittlerweile der Strom auszugehen.

Bernadette war krank geworden und Benedikt gab ihr einen Kuss, obwohl Bernadettes Erkrankung ansteckend war. „Kann man eine Frau lieben, die eine ansteckende Krankheit hat?“, fragte sich Benedikt. Er begehrte Bernadette, also küsste er sie und sagte zu ihr: „Es ist mir egal, wenn du mich ansteckst. Ich liebe und begehre dich!“ Und Bernadette lachte ihr geheimnisvolles Lachen, welches aus zwei gleichen Silben bestand: „Haha“. Das war es, was Benedikt so sehr liebte an Bernadette und ihn für sie einnehmen ließ, das ihn neugierig machte auf sie, und sein Begehren nach ihr anfeuerte. Er brachte ihr das Abendessen, das Brot, den Käse, die Wurst und das Bier, wie sie es ihm aufgetragen hatte. Die Dose mit den Pilzen und die mit den eingemachten Heringen für den nächsten Mittag. Er überreichte ihr den Einkaufskorb mit den Sachen darin und ließ sich das Geld dafür von ihr geben. Sie aß das Brot mit der Wurst und den Käse, den Benedikt ihr gebracht hatte, und trank das Bier dazu. Er lachte ihr die Butter vom Brot, und das war nicht gelogen und war einfach deshalb passiert, weil Bernadette die Butter frisch aus dem Kühlschrank genommen hatte und sie sich daher nur schwer auf das Brot streichen ließ und schon bei geringsten Atemstößen herunterfiel. Und Benedikt lachte laut und kraftvoll. Also konnte das leicht geschehen.

Dann gab ihm Bernadette nochmals einen Kuss, ehe Benedikt verschwand. Er verließ das Haus und bestieg die Straßenbahn. Er fuhr zurück in die Stadt. Dann ging er in ein Konzert. Und in dem Konzert wurde ein elendslanges Stück gespielt, das nicht zum Aushalten war für ihn. Jeder Ton sollte für ein Jahr des früh verstorbenen Widmungsträgers gelten, dabei kam für Benedikt aber nichts von dem rüber, was für den Menschen bedeutend gewesen sein könnte. Und er dachte, dass der Widmungsträger wohl ein stinklangweiliges Leben gehabt haben musste. Was er nicht glauben konnte oder wollte. Und so hatte Benedikt sich vorzeitig aus dem Konzert davongemacht und war auf die wieder stark belebte Straße hinausgegangen. Er beobachtete die Stimmung. Sang für sich das Einmaleins der Liebe.

Benedikt dachte wieder zurück an Bernadette. Neulich hatte er von ihr geträumt, hatte ihre schönen glatten Schenkel geküsst, die mit einem leichten dunklen Flaum bedeckt waren. Dann war er aufgewacht. Aber wie sieht sie wirklich aus, fragte er sich. Er hatte Bernadette ja noch nie nackt gesehen. War ihr Körper so, wie er ihn sich immer vorgestellt hatte? Ihr Busen noch romantisch oder doch schon eher schlaff und von der Zeit entstellt. Ihre Haut welk, ihr Schamhaar ausgefranst und verblüht.  Nein, das konnte nicht sein! Benedikt wusste es nicht. Egal, es war wie es war. Und es ging ihn nichts an. Bernadette war Benedikts Instantgeliebte, die Liebe darin vielleicht nichts anderes als ein Haltbarkeitsmittel, fein darin verteilt, so dass man es nicht merkte am Geschmack. Sicher war es nur eine Freundschaft, die gegen alle Missverständnisse und Unmöglichkeiten hielt, ja vielleicht sogar in moralischen Untergängen. Und Benedikt liebte das, liebte Bernadettes Standfestigkeit, die sie ihm gegenüber immer bewiesen hatte. Und immer wieder lachen musste, wenn Benedikt etwas Lustiges sagte. „Haha“, da wusste er, dass es passte.

Benedikt hätte zu Camilla gehen können, jetzt, und zu ihr sagen: „Ich will mit dir reden!“ Hätte er erst gewusst und nicht nur vermutet, wo sie wohnte. Die Straße ausfindig machen, das Haus mit der richtigen Nummer. Auch das hätte System gehabt, probiert werden müssen. Und hätte er das geschafft, und wäre unter der Türe von Camillas Wohnung gestanden, wie hätte sie reagiert? Mit einem langgedehnten „Hallooo!“ Und dann … Hätte es da dann etwa einen weiteren Unterschied zu Bernadette gegeben? Er hätte das nicht sagen können. Vielleicht war das der Unterschied. Wenn ja, dann war es sophisticated! Dann war Camilla ein opaker Kristall. Vielleicht hätte Camilla „Komm rein“ gesagt. Vielleicht auch nicht, weil sie gerade die Millionenshow schaute oder den Tatort. Dann wäre nichts gegangen. Und er hätte ihr „Ich ruf dich morgen an!“ in seinen Ohren getragen wie eine Glücksbotschaft.  Wäre damit wieder nach Hause gegangen und hätte nachgedacht. Und sich gefragt, ob er mit Camilla eine längere Beziehung hätte führen können. Er wusste es nicht. Vielleicht ja, vielleicht nein. Liebte er Camilla? Vielleicht. Als er einige Wochen später mal ziellos durch Wien spaziert war, war er plötzlich vor einem Lokal mit dem Namen Camillla gestanden. Einfach so. Er hatte ein Foto davon gemacht und gedacht, er werde es Camilla mal geben, wenn er sie wieder traf. Wenn, ja wenn. „Vielleicht wird sie mir eines Tages wieder wo erscheinen, und ich werde sie ansprechen und ihr das Foto geben, und es wird wie Alltagsmystik sein“, dachte er. So wie das Auftauchen des Lokals auf seinem ziellosen Weg ein Stück Alltagsmystik war. Hätte sie Platz für ihn in ihrem Herzen gehabt?

Als er wieder zu Hause war, in der Stadt, in der er lebte, druckte er das Foto aus, so wie all die anderen, die er in Wien gemacht hatte. Er legte es sich auf den Schreibtisch und betrachtete es lange. Dann drehte er es um und schrieb mit dem Kugelschreiber auf die weiße Fläche: „Und wo bleiben die Bösen, Mysteriösen, Ominösen, die zwischen unsren Welten leben und darin dösen und auf ihren Einsatz warten und uns am Ende dann vielleicht sogar erlösen? In Liebe, dein Benedikt“

© Helmut Schiestl

Helmut Schiestl

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