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„Ich schreibe ein Manifest, weil ich nichts zu sagen habe“

Dieser Satz stammt aus Philippe Soupaults programmatischem Text Literature and the Rest (1920). Er ist einem hintersinnigen Filmprojekt entnommen.

Am Donnerstag um 21 Uhr zeigt das Leokino ein besonderes Filmwerk: MANIFESTO von Julian Rosefeldt (2015). Eigentlich als Rauminstallation mit 12 Stationen gedacht, wird dies im Innsbrucker Kino als linearer Film zu sehen sein. Die Schauspielerin Cate Blanchett schlüpft in jedem der ca. 11minütigen Clips in die Rolle einer monologisierenden Person, mal ist sie ein Clochard, der mit Hund und Einkaufswagen durch eine heruntergekommene Industrieanlage streift, dann eine ambitionierte Brokerin, eine Wissenschaftlerin, eine Grundschullehrerin oder eine zynische Punkerin. Die jeweiligen Personen tragen – mal ereifernd, mal spöttisch, sachlich, mechanistisch – Teile aus politischen oder künstlerischen Manifesten* des 19. und 20. Jahrhunderts vor, von denen viele relativ unbekannt sein dürften.

 

 

 

 

 

 

„Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können.“ Manifest der Kommunistischen Partei (1848)

Wollt ihr denn eure besten Kräfte in dieser ewigen und unnützen Bewunderung der Vergangenheit vergeuden, aus der ihr schließlich erschöpft, ärmer und geschlagen hervorgehen werdet? Filippo Tommaso Marinetti 1909 im Manifest des Futurismus.

Es lassen sich Gemeinsamkeiten, wie die Überwindung des Alten, aber auch die Entschlossenheit einer neuen und grundlegend veränderten Haltung, welche die Welt revolutionieren wird, erkennen.

„Da sind Kerle, die sich mit dem Leben herumgeschlagen haben, da sind Typen, Menschen mit Schicksalen und der Fähigkeit zu erleben. Menschen mit geschärftem Intellekt, die verstehen, dass sie an eine Wende der Zeit gestellt sind. Es ist nur ein Schritt bis zur Politik. Morgen Minister oder Märyrer in der Schlüsselburg.“ Richard Huelsenbecks Dadarede von 1918.

Denjenigen, die uns nicht gut verstehen sollten, sagen wir mit trotziger Verachtung: «Die Situationisten, für deren Richter Ihr Euch vielleicht haltet, richten Euch früher oder später. Wir warten auf Euch an der nächsten Ecke – d.h. bei der unvermeidlichen Liquidierung der Welt, der Beraubung in all ihren Formen. Das sind unsere Ziele, die die zukünftigen Ziele der Menschheit sein werden.»“ Situationistische Internationale (1960).

„Architektur muss brennen!“ verkündete 1980 die Wiener Coop-Himmelb(l)au.

Neben der Schilderung zu überwindender Ausgangssituationen treffen die Texte auch Aussagen über die Autoren:

„In meiner glorreichen Vereinsamung bin ich erleuchtet von der wunderbaren Glut meiner elektrisch geladenen Nerven.“ Manuel Maples Arches A Strident Prescription (1921).

„Wir sind stolz, schön und raubgierig. Wir jagen Maschinen, sie sind unser Lieblingswild. Wir erfinden sie und bringen sie dann zur Strecke.“ Wyndham Lewis: Vortex Manifesto (1914).

Schließlich folgt der Programmatik ein Regelwerk: „Nichts ist originär.

Klaut von allem, was euch inspiriert oder eure Fantasie anregt. Verschlingt alte Filme, neue Filme, Musik, Bücher, Gemälde, Gedichte, Träume, zufällige Gespräche, Architektur, Brücken, Straßen, Zeichen, Wolken, Gewässer, Licht und Schatten. Klaut nur von dem, was direkt zur eurer Seele spricht. Wenn ihr euch daran haltet, wird eure Arbeit, euer Diebstahl, authentisch sein. Authentizität ist von unschätzbarem Wert; Originalität existiert nicht.

Und versucht erst gar nicht, euren Diebstahl zu verbergen – feiert ihn, wenn euch danach ist. Beherzigt auf alle Fälle, was Jean-Luc Godard einmal gesagt hat: ‚Es kommt nicht darauf an, wo man die Dinge hernimmt, sondern was man aus ihnen macht.‘“ Jim Jarmuschs Goldene Regeln des Filmemachens (2004).

In einem fiktiven Interview einer Journalistin, sind Aussagen von Elaine Sturtevant (2004) untergebracht:

„Nun ja, Cate, vielleicht könnte man damit zurecht kommen, wenn der Mensch nicht vor einem schwarzen Loch stünde: der Erkenntnis, dass ihm seine absolute Funktion, sein primäres Existenzgefühl abhanden gekommen ist. Der Mensch war einmal ein Original, er besaß und beanspruchte eine gewisse Authentizität. Aber heute ist das alles tot, am Ende. Der Mensch ist verfügbar und entbehrlich. Cate?“

 

Manchmal ergänzen sich die visuellen Inszenierungen, z.B. wenn die Börsenmaklerin Marinettis „Futuristisches Manifest“ skandiert, manchmal klaffen aber auch Bild und deklarierte Manifestfragmente weit auseinander und sorgen für Irritationen, Assoziationen und Spannungen. So radikal und entschlossen die Texte auch sein mögen, so bleiben sie doch nur Schatten vergangener Bewegungen. Einerseits ist das Gefühl des Umbruchs vertraut, die Notwendigkeit eines radikalen Wandels, doch wenn die Lehrerin die Textauszüge den Schülerinnen und Schülern diktiert, sind sie bloss noch Glaubenssätze.

In der ursprünglichen Fassung als Rauminstallation bringt die synchrone Aufführung aller Clips an einem Ort mit sich, dass man zwischen den einzelnen Manifesten und ihren Manifestationen hin und her gehen kann und diese sich auch akustisch ergänzen und ins Wort fallen. Allein diese fluide Präsentationsform stellt schon in Frage, was Film heute ist und sein könnte. Doch auch die  Langfilmfassung ist ein Kunststück besonderer Art.

Politisch Interessierte mögen sich am Verve der ewig aktuellen Forderungen nach gesellschaftlichem Wandel, künstlerisch Interessierte an der Einnahme extremer Positionen, der Spannungsverhältnisse von Kunstformen und Realität sowie der audiovisuellen Inszenierung und dem Verwandlungstalent Cate Blanchetts laben. Doch auch auf individueller Ebene zeugt diese Arbeit vom Rollen- und Perspektivwechsel, den wir ebenso wie Blanchett alltäglich chamäleonhaft vollziehen, ebenso mehr oder weniger orientierungslos zwischen Glaubenssystemen, Denkwelten und Erklärungsmustern mäandernd, deren Sinnlosigkeit und Vergänglichkeit wir erahnen.

Ein ästhetisches, sinnliches und intellektuelles Spiel, das man nicht verpassen sollte!

Riri

 

 

MANIFESTO Cate Blanchett als Arbeiterin in einer Müllverbrennungsanlage. Foto: Julian Rosefeldt/ACMI

* Auf Julian Rosefeldts Website [https://www.julianrosefeldt.com] findet sich die Auflistung der jeweiligen Manifeste:

PROLOG – Burning fuse

Karl Marx / Friedrich Engels, Manifesto of the Communist Party (1848)

Tristan Tzara, Dada Manifesto 1918 (1918)

Philippe Soupault, Literature and the Rest (1920)

 

Situationismus – Homeless man

Lucio Fontana, White Manifesto (1946)

John Reed Club of New York, Draft Manifesto (1932)

Constant Nieuwenhuys, Manifesto (1948)

Alexander Rodtschenko, Manifesto of Suprematists and Non-Objective Painters (1919)

Guy Debord, Situationist Manifesto (1960)

 

Futurismus – Broker

Filippo Tommaso Marinetti, The Foundation and Manifesto of Futurism (1909)

Giacomo Balla / Umberto Boccioni / Carlo Carrá / Luigi Russolo / Gino Severini, Manifesto of the Futurist Painters (1910)

Guillaume Appollinaire, The Futurist Antitradition (1913)

Dziga Vertov, WE: Variant of a Manifesto (1922)

 

Architektur – Worker in a garbage incineration plant

Bruno Taut, Down with Seriousism! (1920)

Bruno Taut, Daybreak (1921)

Antonia Sant’Elia, Manifesto of Futurist Architecture (1914)

Coop Himmelb(l)au, Architecture Must Blaze (1980)

Robert Venturi, Non-Straightforward Architecture: A Gentle Manifesto (1966)

 

Vortizismus / Blauer Reiter / Abstrakter Expressionismus – CEO at a private party

Wassily Kandinsky / Franz Marc, Preface to the Blue Rider Almanac (1912)

Barnett Newman, The Sublime is Now (1948)

Wyndham Lewis, Manifesto (1914)

 

Kreationismus / Estridentismus – Tattooed punk

Manuel Maples Arce, A Strident Prescription (1921)

Vicente Huidobro, We Must Create (1922)

Naum Gabo / Anton Pevzner, The Realist Manifesto (1920)

 

Suprematismus / Estridentismus – Scientist

Naum Gabo / Anton Pevzner, The Realistic Manifesto (1920)

Kazimir Malevich, Suprematist Manifesto (1916)

Olga Rozanova, Cubism, Futurism, Suprematism (1917)

Alexander Rodtschenko, Manifesto of Suprematists and Non-Objective Painters (1919)

 

Dadaismus – Funeral speaker

Tristan Tzara, Dada Manifesto 1918 (1918)

Tristan Tzara, Manifesto of Monsieur Aa the Antiphilosopher (1920)

Francis Picabia, Dada Cannibalistic Manifesto (1920)

Georges Ribemont-Dessaignes, The Pleasures of Dada (1920)

Georges Ribemont-Dessaignes, To the Public (1920)

Paul Éluard, Five Ways to Dada Shortage or two Words of Explanation (1920)

Louis Aragon, Dada Manifesto (1920)

Richard Huelsenbeck, First German Dada Manifesto (1918)

 

Surrealismus / Spatialismus – Puppeteer

André Breton, Manifesto of Surrealism (1924)

André Breton, Second Manifesto of Surrealism (1929)

Lucio Fontana, White Manifesto (1946)

 

Pop Art – Conservative mother with family

Claes Oldenburg, I am for an Art… (1961)

 

Fluxus / Merz / Performance – Choreographer

Yvonne Rainer, No Manifesto (1965)

Emmett Williams, Philip Corner, John Cage, Dick Higgins, Allen Bukoff, Larry Miller, Eric Andersen, Tomas Schmit, Ben Vautier (1963-1978)

George Maciunas, Fluxus Manifesto (1963)

Mierle Laderman Ukeles, Maintenance Art Manifesto (1969)

Kurt Schwitters, The Merz Stage (1919)

 

Konzeptkunst / Minimal Art – Newsreader and reporter

Sol LeWitt, Paragraphs on Conceptual Art (1967)

Sol LeWitt, Sentences on Conceptual Art (1969)

Sturtevant, Shifting Mental Structures (1999)

Sturtevant, Man is Double Man is Copy Man is Clone (2004)

Adrian Piper, Idea, Form, Context (1969)

 

Film / Epilog – Teacher

Stan Brakhage, Metaphors on Vision (1963)

Jim Jarmusch, Golden Rules of Filmmaking (2002)

Lars von Trier / Thomas Vinterberg, Dogme 95 (1995)

Werner Herzog, Minnesota Declaration (1999)

Lebbeus Woods, Manifesto (1993) – Epilogue

 

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