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Tiroler Jenische – marginalisierte Protagonisten der fünften Jahreszeit

Kaum Licht, mehr als Schatten
Tirol an sich und Innsbruck im Besonderen gelten nicht gerade als Faschingshochburgen. Dennoch lässt sich in der fünften Jahreszeit hierzulande Aufschlussreiches beobachten: Die närrische Zeit bringt nämlich eine Tiroler Bevölkerungsgruppe ans Licht, die ansonsten das ganze Jahr über – sowie inzwischen seit Jahrzehnten – von der öffentlichen Bildfläche komplett verschwunden ist.

 

Es geht um die ‚Karner‘, die ‚Laninger‘, die ‚Dörcher‘, die politisch korrekt als Jenische bezeichnet werden. Die Herkunft dieser traditionell nicht sesshaften Minderheit, die im gesamten süddeutschen Raum lebt, liegt ebenso im Dunkeln wie ihre Existenz im heutigen Tirol überhaupt. Folglich ist auch nur wenigen Nicht-Jenischen bekannt, dass es diese Gruppe prinzipiell gibt. Im Dritten Reich als ‚Zigeuner‘ oder ‚Asoziale‘ verfolgt, wurden die Jenischen nach 1945 systematisch in die Sesshaftigkeit gezwungen. In diesem Zusammenhang dürfte die Reichenauer Bocksiedlung bis in die 1970er Jahre hinein einen höheren Bekanntheitsgrad erlangt haben als ihre Einwohner, die Jenischen, selbst.

 

‚Karnern‘: Alltag und Ausnahmezustand
In zeitgenössischen Zeitungsberichten wurde regelmäßig negativ über die „Bockeler“ – so wurden die Bewohner der Siedlung genannt – berichtet und somit die damaligen Vorurteile gegen die Angehörigen des ‚fahrenden Volkes‘ auch auf lange Sicht gesehen verfestigt. Heute existieren die negativen Zuschreibungen nach wie vor, auch wenn die Betroffenen inzwischen aufgrund ihrer von oben herab verordneten Sesshaftmachung in der Mehrheitsbevölkerung aufgegangen zu sein scheinen. Nicht von ungefähr gehören zum Beispiel ‚karnern‘ oder ‚du Karner‘ zum allgemeinen und alltäglich genutzten Sprachgebrauch der Tiroler an sich, wenn es um häufig verwendete Schimpfwörter geht.

 

Allerdings kann und will Tirol, und auch Innsbruck, einmal jährlich auf seine Jenischen nicht verzichten. Im Fasching sind sie bedeutender Bestandteil der entsprechenden Umzüge vor allem im Oberland, wo diese Tiroler Minderheit einst auch ihre wichtigsten Zentren hatte. Die Fasnacht in Telfs, Imst oder Nassereith feiert dann ihre ‚Laninger‘ oder ‚Karner‘ geradezu. Ein Faschingswagen wird also regelmäßig zur Bühne, auf der sie der Welt präsentiert werden. Die ‚Karner‘ sind in der fünften Jahreszeit aber auch in der Landeshauptstadt anzutreffen, wenn die entsprechende Faschingsgruppe am Unsinnigen Donnerstag – im ’närrischen Sinn‘ bereits traditionell – in Amras betteln geht.

 

Eine ‚andere‘ Freiheit = eine ‚grenzenlose‘ Provokation?
Einerseits sprechen diese Beobachtungen Bände, die andererseits aber auf zwei unterschiedliche Arten und Weisen gelesen werden können. Aus dem Alltag vollständig verschwunden, aber regelmäßig als Witzfiguren missbraucht: Die Existenz jener Fasnachtsgruppen, die sich als ‚Karner‘ oder ‚Laninger‘ verkleiden, deutet auf eine gesellschaftliche Marginalisierung der Jenischen hin, die aber weit über vollständige Ignoranz hinausgeht.

 

Sie diffamiert vielmehr und macht sich über das ‚Anders-sein‘ alternativer Lebenskonzepte lustig, und zwar mit offizieller und öffentlicher Legitimation. Objektiv betrachtet handelt es sich bei dieser, bis dato in Österreich nach wie vor nicht anerkannten Minderheit nämlich um ein Gegenmodell zum (ebenfalls stereo-)typischen Tiroler Bauern, der doch so stolz auf sein Land – im Kleinen wie im Großen – ist.

 

Die Jenischen wiederum, die zu Beginn vermutlich aufgrund von Landknappheit gezwungenermaßen herumziehen mussten, hatten im Einzelfall keinen eigenen Grund und Boden, weshalb ihnen in der Folge aber auch das ganze Land offenstand. Sie waren in gewisser Weise also freier als der vielgerühmte freie Bauernstand, der für die kollektive Tiroler Identität so überaus prägend war und nach wie vor ist.

 

Die funktionelle Fasnacht ist so frei …
Diese Art einer anderen, ‚grenzenlosen‘ und absolut unbekannten Freiheit könnte bei den sesshaften Bewohnern also Neid geweckt haben. Neid ist immer ein untrüglicher Hinweis darauf, dass man selbst überaus gerne etwas möchte, dieses aber aus bestimmten Gründen nicht haben bzw. machen darf oder kann. Und genau an diesem Punkt kommt einmal mehr der Fasching ins Spiel, dem früher noch viel mehr als heutzutage die Funktion eines gesellschaftlichen Ventils zugefallen war. Man durfte, sozusagen offiziell, die Obrigkeit rügen und die Herrschaft kritisieren – wenn auch verborgen hinter Masken und Verkleidung.

 

Dass die ‚Karner‘, ‚Laninger‘ und ‚Dörcher‘ zumindest als traditionelle Figuren der Tiroler Fasnacht überlebt haben, kann demnach auch als Indiz dafür gewertet werden, dass sie von der Mehrheitsbevölkerung in gewisser Weise für ihren Mut bewundert wurden – und noch immer werden: Sie lebten entgegen der damals wie heute herrschenden Grundvoraussetzungen an ein vergemeinschaftetes Volk, das sich seine Sicherheit auf Kosten der Freiheit erst verdienen musste. Ich bin so frei und verwandle mich in einen (stereo-)typischen Tiroler Fahrenden – wenn auch nur einmal im Jahr und natürlich nur für kurze Zeit. Was ein solches Leben aber das restliche Jahr über bedeutete und mit sich brachte, das steht in den Annalen auf einem ganz anderen Blatt.

 

Autorin: LISA BURTSCHER

 

Alle Fotos © Fasnachtskomitee Nassereith



9 Comments

  1.  Im Fasching können wir unsere versteckten Sehnsüchte und Neigungen darstellen, die Darstellungen des "fahrenden Volks" zeigt daher eher unsere Wunschvorstellungen und Projektionen. Toller Text!

    • Als Präsident des Jenischen Kulturverbandes Österreich habe ich mich früher auch über die Faschingsumzüge und die Darstellung der Jenischen geärgert.

      Heute, wo die besten WissenschafterInnen das Leben und die Geschichte der Jenischen aufgearbeitet und  das Jenische Volk rehabilitiert haben, kann ich darüber hinwegsehen.

      Mir fällt an dieser Stelle die wissenschaftliche Arbeit von Frau Magistra Dr. Elisabeth Grosinger Spiss ein, "Jenische im Spiegel ihrer Zeit."

      Mag. Dr. Horst Schreiber hat hervorragende Arbeiten geschrieben und veröffentlicht.

      http://www.freie-radios.net/21166

      Bei den Fasnachtsumzügen geben im Grunde die Akteure, die damalige Sicht auf diese Volksgruppe wieder. Ich, für meine Person betrachte das als Zeitdokument.

      Jenische nur auf die Bocksiedlung einzugrenzen ist etwas zu eng gesehen. Hans Bock war kein Jenischer.Es wohnten ca. 4 jenische Familien in der Bocksiedlung.

      Wenn man von den Jenischen spricht, spricht man von einer großen Volksgruppe in Europa und in den USA. Die Thinkers, Pavee, Yenish People. In Frankreich die Yeniche. In der Schweiz, Österreich und in Deutschland die Jenischen.

       Man spricht von einer Volksgruppe, deren Kinder vom Fürstbischof Max Gandolf von Kuenberg in Salzburg, am Scheiterhaufen, ermordet wurden. Immer wenn Sündenböcke gebraucht wurden, hat man diese Bei den Jenischen oder Juden gefunden.

      Historische Ausgangslage

      In den Jahren 1675 bis 1681 fand in Salzburg einer der damals spektakulärsten und grausamsten Hexenprozesse gegen vagabundierende Kinder und Jugendliche statt, denen man die Gefolgschaft mit dem berüchtigt-gefürchteten Zauberer-Jackl, einem angeblichen Hexenmeister, nachsagte und sie unter dem Verdacht seines teuflischen Einflusses der Ausübung schwarzer Magie beschuldigte.

      Unter Folter legen die Kinder, getrieben von unsäglicher Angst, Schmerzen und der Ohnmacht der Einsamkeit und der Schutzlosigkeit, denunzierende Geständnisse ab, deren überschäumende Fantasie das abergläubische Weltbild der Peiniger bestätigt und die Angeklagten dem Scheiterhaufen übergibt.

      Felix Mitterer hat unter Verwendung der authentischen Protokolle ein berührendes, schonungsloses und schockierendes, dramatisches Zeugnis historischer Grausamkeit und inquisitorischer, religiöser, juristischer Ignoranz und Verblendung geschaffen und ein überzeugendes Paradigma für unsere heutige Welt gefunden, in der soziale und gesellschaftliche Ungerechtigkeit und die Unfähigkeit ihrer Linderung sowie grausame Folterungen trauriger Alltag sind.

      http://tirol.orf.at/radio/stories/2547406/

       

       

  2. Also, wer einmal im Landeck ist:

    Dort gibt es eine Dauerausstellung über Tiroler Brauchtum und über unterschiedliche historische Aspekte der Geschichte Tirols etc., dort kann man auch gut aufbereitet einiges Wissenswertes über die Jenischen erfahren – auch was ihr Schicksal in der Nazizeit angeht, kann ich nur weiterempfehlen. Schönes Schloss, tolle Ausstellung (en).

    www.schlosslandeck.at

  3. Schön wäre es, wenn die Diskriminierungen, die bis heute andauern, bei den Faschingsumzügen gezeigt wüden.
    Oder wie wir als Kinder aus den Familien gerissen wurden, in Umerziehungsheime verschleppt wurden und dort schwerstens Misshandelt und Missbraucht wurden.

    JKV-Ö

  4. Der Ausgangstext ist wunderbar verfasst.

    Ich darf noch hinzufügen, dass lediglich die Stadt Innsbruck, mit ihrer Bürgermeisterin Mag.a Christine Oppitz Plörer sowie der Opferschutzkommission unter der Leitung von
    Dr.Horst Schreiber, mit den Jenischen-Erziehungsheimkinder faire, behutsam und einfühlsam umgegangen ist.
    Viele jenische Kinder wurden aus ihren Familien gerissen und in Erziehungsheime verbracht.
    Die Begründungen waren sehr dubios.
    Dort wurden die Kinder schwer misshandelt und zum Teil schwerstens sexuell missbraucht.
    Das wäre wohl für eine Faschingsbühne unbrauchbar?

    Herzlichen Dank Frau Bürgermeisterin.
    Herzlichen Dank Herr Amtsdirektor.

    JKV – Ö

  5. hallo! habe vor ein paar Tagen zufällig die Veröffentlichung von Frau grosinger spiess „jenische in Tirol“entdeckt . hatte ihr 2008 eine mail geschickt, sie verwendete es als einleitung. ja, so war es und leider passieren diese Anfeindungen gegen Menschen verschiedenster herkunft auch im Jahre 2018 wieder vermehrt. Es macht mich traurig, aber auch wütend, dass Menschen rassistisch agieren und das Feindbild „Asylanten,Menschen anderer Herkunft so hoch halten.

  6. Lieber JVK-Ö! Ich würde gerne mit euch in Verbindung treten – das Kontaktformular der Webseite funktioniert jedoch leider nicht (mehr). Habt ihr eine Email-Adresse oder eine Telefonnummer, wo ich euch erreichen kann?

  7. Von diesen Menschen war ich immer fasziniert. Sie hatten etwas Besonderes in sich, sie vertraten ihre Meinungen sehr. Das brachte fuer sie oft grosse Probleme. Mit einer Gruppe von verschiedenen Menschen schafften wir es dann auch, dass die Erziehungsheime geschlossen wurden, die Kinder, die von schlecht geschulten Behörden von ihren Familien entfernt wurden , und 3 bzw 6 Monate auf der „Novak-Vögel“ – Kinder-Station untergebracht waren. Auch diese Station wurde geschlossen, wir hatten genug innere und geistige Kräfte dafür.

  8. Romed Mungenast, Gedichte, in: Gerald Nitsche (Hg.), Österreichische Lyrik und kein Wort Deutsch. Dichtung der Minoritäten, Innsbruck (Haymon) 1990 (darin ein Kapitel mit einem einleitenden Text über die Kultur der Jenischen und dazu dann eben ein Gedichtzyklus von Mungenast; Neuaufl. 2008) und ders. (Mungenast), Jenische Gedichte, in. Literatur und Kritik, Salzburg 1998, 77f., geben einen authentischen Einblick in Kultur und Sprache der (Tiroler) Jenischen. Romed war ja (auch außerhalb von Tirol) kein Unbekannter. Er starb bereits vor Jahren leider früh an Krebs. Ich selber habe wie wohl ähnlich viele andere (nicht zuletzt von der „Initiative Minderheiten“) ihn gerade für seine Natürlichkeit, Lebendigkeit und Herzlichkeit (kann das bedauerlicherweise nur klischeehaft ausdrücken) sehr geschätzt. ob in seinem Schreiben, ob im Leben.

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