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Herr Schneeberger

Vitus Schneeberger sagte „gut“ und machte einen Spaziergang. Die jungen Mädchen, die er auf der Straße sah, gefielen ihm fast alle. Er dachte, „jetzt bin ich bald siebzig und sie gefallen mir immer besser. Ja, je älter ich werde, umso besser gefallen mir die Mädchen.“

Dabei aber ging es Vitus  keinesfalls um eine Beziehung mit einer dieser jungen Frauen. Vielmehr hätte ihm eine spontane Begegnung genügt, eine gefühlte Begegnung, wie Vitus  es nannte. Er hätte dieser jungen Frau jede Freiheit gelassen, die sie brauchte, um sich zu entwickeln, um das für sie Wichtige und Erstrebenswerte zu erreichen. Wie das möglich gewesen wäre, war ihn selber nicht ganz klar, aber es belustige ihn auch immer ein kleinwenig, wenn er sich da in eine solche Beziehung hineinphantasierte.

Weil Vitus sich das Ganze nicht ohne eine kleine Portion Ironie vorstellen konnte. Es hätte ihm einfach Spaß gemacht, mit einem dieser Mädchen auszugehen, mit ihm in einem Café zu sitzen und ihm schöne Dinge zu sagen. Dabei ab und zu ihre zarten Händ zu küssen

 
Weniger war Vitus daran gelegen, sie zu penetrieren, weil ihm das ganz einfach zu unästhetisch erschien. Etwa dann, wenn der Körper der Frau in der sogenannten Missionarsstellung auf dem Bett hin und hergeschoben wurde, einem Maschinenteil dabei nicht unähnlich, so wie Vitus das in diversen Filmen immer wieder gesehen hatte. Das lehnte Vitus  ab. Das schien ihm einfach kein schöner Anblick, nicht nur für ihn sondern wohl auch für die auf diese Weise unterlegene Frau und vielleicht auch für. einen nicht real aber vielleicht imaginiert im Zimmer anwesenden Dritten.

Ebenso wenig wie ihn das Aufklatschten der Schenkel bei der umgekehrten Position – also wenn die Partnerin oben saß und ihn ritt – unangenehm in seinen Ohren klang. Und es hätte dann wohl eines eingeschalteten Radios oder Fernsehapparats bedurft, um dieses unästhetische Geräusch zu übertönen.

 
Aber vielleicht, so schloss Vitus diese seine Gedankengänge, stand dahinter nur die reine Angst zu versagen, obwohl sich Vitus  potent fühlte, aber wenn das dann vielleicht zu lange dauerte, ihm dann vielleicht schon Krämpfe in seinen Handgelenken beim sich Aufstützen kamen, so dass also Anstrengung für Lustgewinn angesagt gewesen wäre? Nein, ein Geschlechtsverkehr erschien Vitus als ein viel zu brachialer Akt, viel zu grob  für so ein zartes Wesen und für den Moment der Liebe, wie Vitus ihn sich vorstellte.
Am besten erhoffte man sich nicht all zu viel von diesen Dingen, schloss Vitus dann. Am besten man ließ die Dinge laufen. Und alles was über die Faszination des Geruchs junger weiblicher Haut hinausging, war für Vitus, seinem Alter entsprechend, ohnehin schon ein Luxus. Aber mit allen Mitteln eine sexuelle Begegnung zu vermeiden, auf sie zu verzichten, das schien Vitus einfach zu verkrampft, ja es wäre ihm vielleicht wie das Ausbrennen einer Wunde erschienen, vielleicht am Ende nützlicher für seine gesellschaftliche Reputation, dabei aber mit so viel Schmerz für das eigene Seelenleben verbunden, dass Vitus gar nicht daran denken mochte.
 
Jetzt schienen Vitus diese Gedankengänge zwar wie ein pausenloses Summen in seinem Kopf, oder wie das Murmeln eines Baches, neben dem man ging,  aber nichtsdestotrotz hatten sie Anrecht auf Realisierung, auf Durchsetzung. Vitus wollte trotz seiner Einsamkeit keine Unterdrückung irgendwelcher wie auch immer gearteter ehrlicher Gefühle zu jungen Frauen. Alte Männer schienen ihm übrigens mehr dieser Einsamkeit ausgeliefert zu sein als alte Frauen.
 
Weil er vom langen Gehen müde geworden war, ging Vitus in ein Chinarestaurant und bestellte sich ein Menü. Acht Schätze. Das war das Essen, das er in Chinarestaurants immer am liebsten aß. Als ihm nach dem Essen mit der Rechnung ein in einer Zellophanhülle verpacktes Glückkseks überreicht wurde, und er dieses auseinanderbrach um es zu essen, so war dieses leer, es enthielt also keine Botschaft. Das beunruhigte Vitus, weil er dachte, dass das Unglück für ihn bedeutete und er wurde traurig, und ging nach Hause.
© Helmut Schiestl
Kunstobjekt von Marcel Hiller

Helmut Schiestl

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