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Das Hemd

Georg widmete sich wieder seiner Gedankenkopfarbeit und stellte sich die Frage, wie es denn wohl wäre, wenn uns das wenige, das uns im Leben bleibt, auch noch verloren ginge. Was bliebe dann noch? Was bliebe denn wirklich? Und Georg wusste, dass er diese Frage morgen seinem Freund Peter beim, wie jeden Tag gemeinsam eingenommenen, Mittagessen stellen würde. Und auch Peter wird darauf keine Antwort wissen, so wie dieser heute schon auf eine ähnliche Frage keine Antwort gewusst hatte.

 

Aber das machte nichts, das machte gar nichts. Die Frage blieb trotzdem hochaktuell, einfach weil sie immer aktuell war. Georg aber dachte und konnte kein Ende zu seinen Gedanken finden. Bis der Geisterfahrer wieder von der Fahrbahn seiner Gedanken war, und er so wieder seine Arbeit fortsetzen konnte. Er ließ die Frage jetzt einfach fallen, dort wo sie hingehörte, und schon schoss die Sekretärin in sein Büro herein und warf ihm einen Stoß eng beschriebenen Papiers auf den etwas zu aufwendig dekorierten Schreibtisch, was Georg mit einem graziösen Lächeln quittierte. Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Und die Sekretärin war schon wieder verschwunden und er begann mit dem Kugelschreiber kleine Zeichen auf die bedruckten und beschriebenen Seiten zu machen. So wie kleine Vogelscheiße sah das aus, war es aber nicht, war nur ein ganz kleines Exkrement aus dem Kugelschreiber. Ansuchen und Gesuche um Erholungen und Urlaube. Von draußen drang zärtliche Musik herein, dazu gesellte sich Kindergeschrei und Straßenlärm, wohl dosiert und nicht im Geringsten störend, so dass sich Georg in vollkommenster Konzentration an seine Arbeit machen konnte. Noch einmal alles zu ordnen, es besser zu ordnen. Nie war ihm die Ordnung genug. Immer fehlte noch ein Stückchen zu ihrer Perfektion, während die Sekretärin die Blumen goss. Die großen und die kleinen, alle bekamen sie ihr Tröpfchen Wasser ab. Auch die große Blumenampel, die mitten im Raum hing, so dass alle daran sich ihre Köpfe wundstießen, und zu deren Bewässerung die Sekretärin extra auf dem Stuhl steigen musste.
 

Und da hatte Georg auch schon seinen Büroarbeitstag beendet und machte sich auf den Nachhauseweg. Es war erst früher Nachmittag und so wollte Georg noch bei einer am Weg liegenden Boutique vorbeizuschauen, um sich ein Hemd zu kaufen, das dort im Schaufenster lag und das ihm gut gefiel, das aber sehr teuer war. So viel Geld hatte er gar nicht bei sich, wie er gerade durch einen Blick in seine Geldtasche merkte. Und da fragte er die Verkäuferin ganz ungeniert, ob denn ein solches Hemd überhaupt zu ihm passen würde. Denn sein Kopf sei doch furchtbar, das sei doch wohl keine Frage. Und die Verkäuferin antwortete darauf pflichtschuldigst, dass sein Kopf natürlich schwer in Ordnung sei und überhaupt keinen Grund zur Besorgnis abgeben würde. Obwohl jeder Mann und jede Frau und wohl auch jedes Kind sehen konnte, dass Georgs Kopf ein einziger Witz war. Also was tun? So sagte Georg kurz entschlossen, dass sie in der Nervenklinik seinen Kopf austauschen könnten, sie hätten dort ein völlig neues Verfahren entwickelt, mit dem es möglich sei, Köpfe von Menschen beliebig auszutauschen. Ein Fortschritt der medizinischen Wissenschaft, der sich gerade bei Gehirntumoren und Geisteskrankheiten als kaum zu überschätzender Vorteil bewähren würde, wie sie, die Verkäuferin, sicher leicht verstehen könnte. Sein neuer Kopf liege dort schon im Tiefkühlfach und er müsste nur hingehen und sich der sicher nicht unerheblichen Operation unterziehen. Nein, nein, das sei doch überhaupt nicht notwendig, ergänzte gleich die Verkäuferin, und Köpfe führten sie hier sowieso keine und da müsse er sich schon wo anders hinbemühen, aber wo, das könne sie ihm leider auch nicht sagen, und natürlich(!) konnte sie ein Lachen über das von diesen seltsamen Kunden soeben Gesagte nicht unterdrücken und wendete sich deshalb gleich zum Ladenregal, schließlich wusste sie ja nicht, ob der seltsame Kunde nicht vielleicht auch hochgefährlich war. So packte sie kurz entschlossen das Hemd, das Georg sich ausgesucht und gerne gekauft hätte, ein, überreichte es ihm und wünschte im noch alles erdenklich Gute für seine bevorstehende Operation.

 

Gern hätte Georg mit der Verkäuferin noch ein paar Worte gewechselt über den Sinn des Lebens etwa, oder hätte sie auch gefragt, ob sie nicht auch hie und da wenigstens das Gefühl hätte, dass hinter den Dingen nichts sei. Aber da entschloss sich Georg doch, das Geschäft mit dem Hemd zu verlassen, ehe es sich die Verkäuferin noch anders überlegte. Und so hauchte er dieser noch ein liebes „Dankeschön“ hin und huschte zur Tür hinaus auf die Straße, hüpfte in die nächste Straßenbahn und fuhr nach Hause, um sich schön zu machen und hernach noch etwas zu unternehmen.

 

Helmut Schiestl

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