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Music and the city (Vol. 24)

Pünktlich zum Jahresende kann sich euer Kolumnist dem überall herrschenden Listenwahn nicht mehr entziehen und hat versucht, die musikalischen Perlen des Jahres 2011 auszuwählen – auch hier, wie gewohnt, ein wenig abseits des Mainstreams

 

Listen sind zunächst einmal schon ziemlich überflüssig – noch sinnloser sind allerdings Reihungen. Hier wurde zumindest auf eine Reihung verzichtet:

 

Matthew Shipp – "The Art Of The Improviser": Das New-Yorker Klaviergenie wurde 50 und hat zu seiner und zu unserer Freude ein Doppel-Live-Album veröffentlicht, das wie eine Zusammenfassung seines bisherigen Schaffens und zugleich wie eine Vorausschau auf das wirkt, was noch möglich ist und möglich sein wird. Ein uferloses, anstrengendes, herausforderndes und dennoch wunderschönes Klangdokument, das die Tradition ebenso kennt wie die schiere Utopie von dem, das man so noch nicht gehört hat. 

http://www.youtube.com/watch?v=ZSGv2a0iAYM

Keith Jarrett – "Rio": Man mag unter der Veröffentlichungsflut von Keith Jarrett resignieren und glauben, dieses Album ganz sicher nicht mehr ins Regal stellen zu müssen. Bei den ersten Takten von "Rio" wird aber deutlich, dass nichts falscher sein könnte. Aus mehreren Gründen hat dieses Album eine Sonderstellung im Gesamtwerk von Jarrett: zum einem ist der Klang der Live-Aufnahme schlicht atemberaubend. Zum anderen wagt sich Jarrett hier zum Teil auch an brasilianische Musik heran, die seine sperrige, teils auch melancholische Musik mit Licht flutet. Ein Meisterwerk! 

http://www.youtube.com/watch?v=lLKIr_e00dI

Gillian Welch – "The Harrow & The Harvest": Zu dieser Platte Worte zu verlieren, wäre umsonst. Es ist sehr einfach: wer bei Liedern wie "Dark Turn Of Mind" oder "Tennessee" nicht Tränen in den Augen hat, der hat kein Herz. Songwriterische Kleinode, die man nicht mehr so schnell vergisst, vorgetragen von einer Stimme, die über die Jahre noch gereift ist. 

http://www.youtube.com/watch?v=t_dTFT-KflU

BB&C – "The Veil": Nels Cline, Tim Berne und Jim Black verstecken sich hinter den 3 Buchstaben. Diese Aufnahme ist zum Glück viel spektakulärer als es der Bandname nahelegen würde. Das ist nicht nur ein Zusammentreffen von drei der wichtigsten Musiker der improvisierten Musik, sondern das ist auch ein Glücksfall, ein Ereignis, ein Abend, der vor 2 Jahre im Stone in New York aufgenommen wurde und von BesucherInnen als einer der intensivsten Musikabende überhaupt beschrieben wird. Ein heißer Julitag in New York, drei Musiker in absoluter Spiellaune, drei Musiker, die sich scheinbar blind verstehen. Nels Cline sagte über Jim Black, dass er manchmal seine Ideen hören könne. Wer offene Ohren hat, der wird auch das immense Talent dieser drei Ausnahmerscheinungen auf "The Veil" sehr deutlich hören können. 

http://www.youtube.com/watch?v=YaiBOfr1itY&feature=related


Mary Halvorson/Jessica Pavone – "Departure Of Reason": Mary Halvorson und Jessica Pavone begreifen ihre Musik als eine Art von Tagebuch. Dabei enstehen Momentaufnahmen, musikalische Spielereien, die jedoch niemals nur rein skizzenhaft wirken, auch wenn die Form der Skizze durchaus eine Rolle spielt. Auf diesem Album singen sie weniger, dafür ist die musikalische Sprache ausgereifter als noch auf "Thin Air". Ein Album, das zugleich Pop ist, als auch Free-Jazz, als auch Rock, als auch nichts davon. Ein anderes Album, das auf den ersten Blick so unspektakulär wirkt und dabei doch so vieles in Frage stellt, wird man wohl selten finden. Elliott Sharp hat sehr richtig beschreiben, dass das manchmal wie eine ehemals dilletantische Punk-Punk klingt, die vor kurzem ein Doktorat in Musik abgeschlossen hat. Zwischen diesen Extremen oszilliert diese Platte dann auch: zwischen Unfertigem und Perfektem.

http://www.youtube.com/watch?v=T_IWsRHTaRs


Electric Fruit – "Electric Fruit": hier werden Klänge durchdekliniert, ausprobiert, versuchsweise gespielt, nur um dann wieder verworfen zu werden. Was man hier hört erinnert oft auch an ein Kind, das viele verschiedenen Gegenstände auf den Boden wirft, nur zum hören, wie sie klingen. Das Album ist kindisch und ersthaft zugleich, witzig und bierernst, atemberaubend und albern auf einmal. Dieses Album bewegt sich, dabei in der Qualität vergleichbar mit "The Veil" ,überall hin, ist grenzenlos in jeder Hinsicht.

http://www.youtube.com/watch?v=RRRGBhjZzUc


Peter Evans – "Ghosts": Evans steht tief in der Tradition des Jazz und schafft es dennoch, zusammen mit Sam Pluta, etwas zu entwerfen, das man vielleicht als diese Zukunft des Jazz und der improvisierten Musik per se bezeichenen könnte. Man hat jedenfalls noch selten eine so gelungen Verquickung zwischen Live-Electronics und virtuosen, melodisch überragenden Trompetenspiel gehört. 

http://www.youtube.com/watch?v=4fn7ECmhZWg

 


Matana Roberts – " Coin Coin (Chapter One)": Robert nimmt sich die Geschichte der Afro-Amerikaner vor, die als Sklaven gehalten wurden. Es scheint, als ob sie deren Geschichte wieder erlebt, durchlebt, abermals durchleidet. Man kann die Frage, ob das vermessen ist oder nicht, nicht eindeutig beantworten. Deutlich ist aber, dass es kaum eine Platte gibt, die die musikalischen Elemente der afro-amerikanischen Kultur besser zusammengefügt hat. Das Spiel von Roberts ist hervorragend, die Spoken-Word-Passagen und die Vocals in ihrer Intensität nur schwer zu beschreiben. 

http://www.youtube.com/watch?v=t-Hpu9Llpw8

 


Wilco – "The Whole Love": Ist Nels Cline jetzt der Untergang oder der große Gewinn der neuen Wilco Platten? Auf "The Whole Love" fügt er sich erstmals organisch in das Bandganze ein und auch die restliche Band spielt zwar zurückhaltend, songdienlich, aber nicht mehr so verhalten wie auf den letzten beiden Alben. Wilco schöpfen endlich aus den Vollen und zeigen, was für eine großartige Band sie sind, ohne tiefzustapeln. Sie entgehen dabei aber auch der Gefahr, die Songs zu vergessen: diese sind so gut wie seit "Yankee Hotel Foxtrott" nicht mehr. Das Indie-Album des Jahres und meilenweit dem Zeug überlegen, das man den ganzen Tag auf FM4 ertragen muss. 

http://www.youtube.com/watch?v=uz6UrYvacQk


Vijay Iyer/Prasanna/Nitin Mitta – "Tirtha": Iyer spielt hier mit indischen Musikern zusammen und vermeidet es, in einen kulturellen Essentialismus zu verfallen: es ensteht keine "echte" indische Musik, aber auch keine "westliche" Musik im eigentlichen Sinne mehr. Diese Musik ist hybrid, Iyer selber würde es wohl lieber "mobil" nennen wollen: diese Musik ignoriert kulturelle Grenzen und ist deshalb stets beweglich. Ein "indisches" Motiv trifft auf wüste Gitarrenakkorde, ohne in einem Widerspruch stehen zu müssen. Das ist "Weltmusik", ohne wirklich Weltmusik sein zu wollen. 

http://www.youtube.com/watch?v=xyNvJFlXbsU


Satoko Fujii – "Watershed": Die japanische Avantgardistin, die wahlweise in New York und in Tokio wohnt, lehnt sich an japanische Volkslieder an und schafft dabei dennoch etwas völlig eigenständiges. Diese Musik klingt fremd und dabei doch immer absolut vertraut, abenteuerlich, aber ohne den "westlichen" Hang zur Fülle und zur Überforderung. Auf dieser Platte passiert manchmal nur sehr wenig, es bleibt viel Platz für Leere und Stelle, für Freiraum. Doch das, was erklingt, ist so interessant wie weniges in diesem Jahr.

http://www.youtube.com/watch?v=mHhvKbkV1qk


Nil Petter Molvaer – "Baboon Moon": In Norwegen scheint es einen natürlichen Hang zu geben, dass sich auch avancierte Musiker dem Pop öffnen. Molvoer ist einer von ihnen, der zusammen mit dem großartigen Westerhus an der Gitarre, der dieses Album auch produziert hat, daran arbeitet, musikalische Grenzen niederzureißen. So findet dieses grandiose Album zu Recht sowohl in Indie-, Pop als auch Jazz-Kreisen große Resonanz. Ein Album voller Abenteuer UND nachvollziehbarer und atmosphärischer Melodien.

http://www.youtube.com/watch?v=R1t5fUvmSM4

 

Wadada Leo Smith – "Heart´s Reflections": Wadada Leo Smith ist eine lebende Legende, der auch diesem Album deutlich mit dem Miles Davis der 70er als Ausgangsmaterial umgeht. Smith ist nicht bescheiden wenn er meint, dass er mit Miles Davis vor allem eines gemeinsam hätte: Davis wäre ein außergewöhnlicher Trompeter gewesen und er auch. Bescheidenheit ist auch völlig unangebracht, wenn man das vorliegende Doppel-Album hört. Ganz nebenbei sei erwähnt, dass er einer der besten Live- und Studio-Bands überhaupt hat, was dieses Album zum absoluten Genuss macht.

 http://www.youtube.com/watch?v=goqoxmzvN6M

 

 

Markus Stegmayr

5 Comments

    • @Wanda: Kenne ich natürlich, ist auch interessant. Für die Jahrescharts würds bei mir allerdings nicht reichen 😉

  1. wenn ich schon zur liste nichts sagen kann (außer dass Wilco bei howImetyourmother vorkommt): der norweger heißt

    nils petter molvaer

    (und das konzert im treibhaus war eine recht heftige erfahrung)

     

    • @Nil: Danke für den Hinweis, Fehler korrigiert.

      Man soll zur Liste auch weniger was sagen, als vielmehr eines tun: HÖREN. Vielleicht ist etwas dabei, das man bisher nicht im Blick hatte…

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