0

Orpheus

Er hatte die Frau, die er einmal geliebt hatte, wieder getroffen. Sie war inzwischen auch älter geworden, so wie er, und er hatte sie nicht wiedererkannt. Oder hatte er sie nicht wiedererkennen wollen? Sie war breit geworden und hatte graue Haare bekommen, und sie hatte ebenfalls so getan, als hätte sie ihn nicht wiedererkannt. Also hatte das Ganze auf Gegenseitigkeit beruht? Auch so etwas hätte Stil gehabt, Stil, der von irgendetwas kam und auf gegenseitige Mimik verzichtete. Und so hatten sich beide dem Konzert hingeben können ohne es durch Wiedersehens-Geplauder zu stören. Die Sprache war also der Musik unterlegen. Und die Leidenschaft für Eurydike war erloschen.

Oder sprach dieser Umstand nicht viel mehr gegen die Unerbittlichkeit des Alters? Was für ein seltsamer Prozess! Und hatte man ihn erst mal molekularbiologisch entschlüsselt und korrigiert, wären dem Spiel keine Grenzen mehr gesetzt gewesen, und sie beide hätten sich als Jugendliche wiedererkannt und wiederentdeckt, hätten vielleicht da weitergemacht, wo sie damals aufgehört hatten, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

Wäre das möglich gewesen? Orpheus dachte schon. Und wenn nicht, dann wäre es immer noch ein schönes Spiel gewesen, das von Begehren erfüllt gewesen wäre.  Und er hätte am Ende dieses bewegten Abends dann vielleicht mit Eurydike dasselbe getan, was er damals gerne mit ihr getan hätte: Sie geküsst, ihre Brüste in seine Hände genommen, ihre Haut liebkost. Und hätte es eine Zeitmaschine gegeben, dann wäre dieser Akt jetzt rückwärts abgelaufen, also er hätte mit dem Intimsten – also dem Berühren ihres Körpers – begonnen und hätte dann bei einem eher zufällig erfolgten spontanen Kuss auf ihre Lippen bei einem Geburtstagsfest, das sie beide – noch ohne voneinander zu wissen – besucht hatten, geendet. Und dazu hätte die Musik gespielt, dieselbe Musik, die sie jetzt getrennt und sich nicht mehr wiedererkennend gehört hatten.

Aber wäre das heute noch, etwa nach dem Konzert, möglich gewesen? Vielleicht wären sie in ein Lokal gegangen und hätten ein paar alte Erinnerungen aufgefrischt, mehr aber auch nicht. Hätten ihre beiden Lebensvergangenheiten erzählt und beratschlagt, wer von ihnen beiden es nun besser getroffen hatte. Nein, so weit wären sie sicher nicht gegangen, wozu auch? Die Musik wäre da sicher noch in ihren Ohren und vielleicht auch in ihren Herzen gewesen, die sie warm gemacht hätte und vielleicht auch zuversichtlich gestimmt oder zumindest versöhnlich. Vielleicht aber wäre alles auch ganz anders gekommen.

Sie erhoben sich nach dem Konzert von ihren Sitzen und strömten mit dem Publikum dem Ausgang zu. Und beim Haupttor des Konzertsaales hatte Orpheus sie schon aus den Augen verloren und sich nicht mehr nach ihr umgedreht. Denn hätte er sich umgedreht, er hätte sie dort in der Menge sicher nicht gesehen. Und so hätte er sie auch gar nicht mehr verlieren können.

Helmut Schiestl

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert