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Music and the city (Vol. 42) – John Tilbury

„Strong Place evinces warm bedrock firmly in place, even as Laubrock and her mates regulary shift the sands around one another. That´s as good a definition for compostion as I can think of.“ (Clifford Allen)

 

Manchmal kann man sogar in Tirol noch was dazu lernen und seine ansonsten abstrakten Studien, zumal man ja weder in Berlin, noch in London, noch in New York lebt, konkret, handfest und in der ästhetischen Begegnung mit Kunstwerken betreiben. Besonders schön ist es, wenn zwei Pole, die letztlich zur Musik per se führen, innerhalb von 1,5 Wochen rezipiert werden können. Wer würde sich besser dazu eignen als der feinsinnige, virtuose Meister der aufregenden und zugleich stilvollen Morton-Feldman-Interpretation, der zugleich auch in der weiten Welt der Improvisiation zu Hause ist? Richtig, wohl niemand.

 

Wissen?

 

Wann festigt sich Verstehen, Wissen, wann ergeben sich Zusammenhänge, wann Vernetzungen und wann Erkenntnis? Wohl dann, wenn man nicht mehr vor einem „Block“ von Möglichkeiten steht, bei denen man nicht in der Lage ist ihn zu interpretieren. Im besten Fall sogar dann, wenn man diese Werkzeuge der Interpretation und Analyse vergisst, sie nicht mehr braucht, sie wegwirft. Ganz so, wie wenn man Phänomene, Aspekte des Lebens „fangen“ will, die eigentlich amorph sind. Worte und Begriffe sind Hilfen, aber es gibt nicht das „Eigentliche“ zu entdecken, man wird nicht näher zu etwas vordringen, wenn man sich begrifflich annähert. Denn dieses „näher“, diese Nahe, diese Präsenz existiert nicht.

 

Was da ist, was möglich ist, ist die Wahrnehmung des Jetzt, des Augenblicks, des Momentes, der Situation, die sich „auftut“. Es ist deutlich, wo hier die Improvisation ins Spiel kommt, die Nutzung des Augenblickes und der luziden Wahrnehmung, was wann geschehen könnte. Es geschieht etwas, von dem man selbst nicht wusste, dass es überhaupt passieren kann. Und das in einem Rahmen, der gesetzt wurde, der klar steht und der sich doch konstant verändert, dabei aber immer der Rahmen bleibt, den man sich erdacht hatte. Ganz einfach deshalb, weil man aufgehört hat, an Stillstand, an einen feststehenden Raum zu glauben, an einen „Strong Place“.

 

„Des Pudels Kern“? 

 

Dieser „Strong Place“, den Ingrid Laubrock auf ihrem (wunderbaren) aktuellen Album beschwört, hat Clifford Allen auf eine überaus treffende und bemerkenswerte Weise ausgelegt und verstanden. Der „Kern“ ist die „stillstehende“ Komposition, das, was „geschrieben“ und „aufgeschrieben“ wurde, die Notation, die einen Weg vorgibt, mit und durch den man sich bewegen kann, damit man nicht vollständig ins Dickicht abkommt. Laubrock und ihre Mitmusiker tragen aber selbst immer wieder Sand ab, damit sich dieser Stein bewegt, damit die Komposition ins „Rollen kommt“, damit sie flüssig wird und so manches zulässt, dass der Augenblick ermöglicht indem die Möglichkeiten offensichtlich da liegen. Allein das Ansetzen zum Spiel, lässt den „Kern“ schwinden, er verändert sich.

 

„Befreite“ Musik? 

 

Der Augenblick kennt im besten Fall keine Zensur, sondern folgt einer Art von Eingebung, vielleicht auch dem Zufall. Das ist es jedenfalls, was John Cage meint, wenn er vom „Nicht-Intentionalen“ meint: Man hat zwar sein kulturelles Wissen, im Moment des Zufalls und weiters auch der Improvisation, schwindet der bewusste Zugriff darauf. Anders gesagt: Der Fokus der sich zu sehr auf dieses kulturelle Wissen legt, wird suspendiert, man erhält den vollen Zugriff, der nicht nach richtig und falsch fragt, sondern der zulässt, was eben passiert. Dennoch nicht die Kontrolle zu verlieren und das „Ich“ vollständig aufzugeben: Das ist die Kunst der Improvisation.

 

Was hat das nun alles mit John Tilbury zu tun? Letztlich sehr  viel: Wie sonst niemand versteht er diese Zusammenhänge, auch wenn er sie manchmal fein säuberlich voneinender getrennt inszeniert, vielleicht auch, um die jeweiligen Vor- und Nachteile deutlich werden zu lassen. In Hall hat er sich ganz der komponierten Musik von Morton Feldman gewidmet, hat er alles von Blatt gespielt und sich bei der Interpretation nur hin und wieder ein paar Freiheiten herausgenommen. Damit zeigt er, wie man das komponierte Werk eines Musikers aufschlüsselt, erschließt, dem Zuhörer wie auch sich selbst als Musiker zugänglich und nachvollziehbar macht. Es braucht Einfühlung, es braucht Feingefühl, um den Spuren nahe zu kommen, die ein Komponist hinterlassen hat.

 

„Von Blatt…“ 

 

Und wenn man diesen Spuren dann einst gefolgt ist, wenn man diese Kompositionen verinnerlicht hat und diesen „Strong Place“ der Komposition vermessen hat, dann kann man sich daran machen, diese Evidenz, diese Sicherheit und diesen Anhaltspunkt wieder „abzutragen“. Man hätte sich gewünscht, dass John Tilbury diese Variante an diesem wunderbaren Abend im Salzlager vorführt.

Doch die beiden „Welten“ blieben getrennt. Man hatte auch nicht das Gefühl, dass sein Wirken in der improvisierten Musik Einfluss auf sein „Von-Blatt-Spielen“ hatte. Konzentriert starrte er auf seine Notenblätter, hob kaum je den Blick davon. Es war, als wollte er in das Werk und in die Komposition eindringen, sie ganz verstehen, sie „richtig“ auslegen und vorführen, damit auch die ZuhörerInnen zu verstehen begannen, wo der ganz besondere Reiz der späten, meditativen, mit Repetition arbeitenden Morton Feldman Stücke lagen. Man kann zweifellos sagen: das gelang ihm mehr als nur überzeugend. Die Stille im Raum, die Absenz von Husten, Stühlerücken und Gläsergeklapper belegten das definitiv.

 

Aber was noch interessanter war, und ich behaupte der Weg, die Brücke zwischen Improvisation und Komposition funktioniert auf andere Weise: Indem man sich Werke und komponierte Musik erschließt, findet diese auch Eingang in die eigene Improvisation. Man erarbeitet sich ein kulturelles Wissen, ein tiefes Verständnis von Werk, das dann wieder in Frage gestellt und zugunsten der Situation aufgegeben werden kann. Letztlich ist die Improvisation „nur“ eine anders verstandene Form von Komposition, ein Sichtbar-Machen des Prozesses der Enstehung von Musik – eben eine „Verflüssigung“ der Möglichkeiten, der Strukturen und zugleich auch eine „Evident-Werdung“ der Funktionsweise.

 

„ArtActs“ und das „Osterfestival“ …

 

Um das zu bemerken, braucht es Veranstaltungen wie das „ArtActs“ ebenso wie das „Osterfestival“. Auf beiden Festivals spielte John Tilbury, auf beiden in vermeintlich anderen Kontexten. Beim „ArtActs“ konzentrierte er sich u.a. zusammen mit der großartigen Isabelle Duthoit auf die freie Form von Musik, während er sich beim „Osterfestival“ streng an die Komposition hielt, sich weniger auf die Situation, auf den Augenblick und auf die Möglichkeiten konzentrierte, sondern ganz im Spiel eines Werkes aufging. Dass diese beiden „Pole“ nicht entgegengesetzt zu interpretieren sind, sondern als komplementär, konnte man bei seinen beiden Konzerten in Tirol erkennen.

 

Wie gesagt: Schön, wenn es in Tirol Möglichkeiten gibt, diesen beiden grundlegenden Fragen des Musikmachens im direkten Kontakt, in der Situation der Enstehung der Musik, nachzugehen.

Und zur Antwort: Wissen und Verstehen entstehen dann, wenn man die Verbindung zwischen Gegensätzen versteht und sich diese dichotomische Struktur aufzulösen beginnt, sondern die notwendigen Verbindungen, die Untrennbarkeit zu Tage tritt. Und diese Wahrnehmung ist, bei aller vermeintlich rationalen Analyse, auch und vor allem Schönheit.

Markus Stegmayr

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