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Ein „Unfall“, der nicht hätte passieren müssen

Ein 19 Jahre alter Mann fährt mit dem Zug von Italien Richtung Österreich. Am Brennero/Brenner steigen Grenzpolizist_innen der AGM* Gries ein. Sie kontrollieren nach dem Prinzip des „racial profiling“ meist nurMenschen, die sie als „ausländisch“ oder „verdächtig“ brandmarken. Der junge Mann wird festgenommen und zur Polizeistation am Innsbrucker Hauptbahnhof gebracht.

 

Sein „Vergehen“: Er hat in Italien Asyl beantragt, darf gemäß den geltenden, rassistischen Gesetze Italien nicht verlassen. Die AGM-Polizist_innen gehen wie so oft vor: Identitätsfeststellung, Abklärung durch die EU-weite Datenbank SIS (Schengener Informationssystem) und dann: Rückschiebung, wie das im Beamt_innen- Sprech heißt. Der junge Mann soll durch eine „fremdenpolizeiliche Maßnahme“ wieder nach Italien, besser: auf die südliche Seite des Brenner-Bahnhofes auf italienisches Staatsgebiet gebracht werden.

 

Am Bahnsteig warten die Polizist_innen am Samstagnachmittag 29. September, mit dem jungen Mann. Der Zug aus München fährt ein.  Plötzlich springt der Junge auf die Gleise…ein schrecklicher Unfall. Er wird schwer verletzt in die Klinik eingeliefert, dort werden ihm  beide Unterschenkel amputiert. Mittlerweile hat sich unseren Informationen zufolge sein Gesundheitszustand stabilisiert, er liegt im künstlichen Tiefschlaf. Wir waren von dem Vorfall geschockt, hoffen und wünschen dem jungen Mann, dass er wieder gesund wird.

Wir wissen aber auch, dass Hoffnung alleine nicht ausreicht. Deshalb stehen wir in Kontakt mit engagierten Menschen und  Organisationen, um für den jungen Mann soziale und rechtliche Unterstützungsangebote zu schaffen.  Als eine Möglichkeit ist ein Spendenkonto angedacht. Dieses soll nach Rücksprache und Einverständnis mit dem Jungen eingerichtet werden.

 

Doch es gibt auch eine politische Dimension dieses tragischen Vorfalles, die wir nicht unbeachtet lassen wollen.

 

Staatlicher Rassismus tötet Menschen!

Die Polizei spricht in den Medien von einem Fluchtversuch des jungen Mannes. Wir sprechen von einem rassistischen Abschiebe- und Grenzsystem, legitimiert durch EU-Verordnungen und nationale Gesetze („Fremdenpolizeigesetz“), durchgeführt durch staatliche Behörden und Beamt_innen.

 

Dieser staatliche Rassismus beraubt Menschen ihrer Grundrechte, bringt sie in psychische Ausnahmezustände. Nicht selten werden Menschen dadurch (schwer) verletzt oder getötet. Das Massensterben an den EU-ropäischen Außengrenzen geht  jeden Tag weiter. Nach Schätzungen von NGOs sind schon fast 20.000 Menschen in den letzten 20 Jahren gestorben.

Die Nachricht über ein gesunkenes Flüchtlingsboot ist meist nur mehr ein Einzeiler „wert“, wenn überhaupt. Während die einen, privilegierte (vermögende) Migrant_innen, für ein bisserl Schmiergeld („part of the game“) die österreichische  Staatsbürger_innenschaft erhalten, werden die anderen, marginalisierte (zu Armen gemachte) Illegalisierte mit militärischer und  polizeilicher Zwangsgewalt davon abgehalten, in die EU zukommen.

 

Schaffen sie es dennoch nach Österreich werden diese erzwungenen Nomad_innen des 21. Jahrhunderts systematisch ihrer Rechte  beraubt, ohne Grund inhaftiert (Schubhaft) und abgeschoben.  Hinter Namen wie AGM, FRONTEX oder DUBLIN II verbergen sich alltägliche, strukturelle Menschenrechtsverbrechen.

Diese Ungleichheit hat einen Namen und ein System: Kapitalismus. Der globale Kapitalismus und damit der „Wohlstand der Wenigen“ basiert  wesentlich auf rassistischer und (hetero)sexistischer Ausbeutung. Jede Kritik an den herrschenden (Un)Verhältnissen, die das System Kapitalismus  außer Acht lässt, und nur „humanere“ Gesetze fordert oder an das „gute Gewissen“ der Menschen appelliert, greift zu kurz.

 

Wir unterstützen aber weiterhin all jene, die sich für die gleichen Rechte der Menschen einsetzen, sich solidarisch mit „Ausgegrenzten“  zeigen und wichtige soziale Unterstützung leisten.

* AGM steht für Schengen-Ausgleichsmaßnahmen. Mit Inkrafttreten des Schengener Vertrages gibt es zwar keine direkten Grenzkontrollen mehr. Stattdessen wurde ein „Grenzraum“ geschaffen, innerhalb dessen Beamt_innen des Innenministeriums rassistische Identitätskontrollen (racial profiling) von  „mutmaßlich illegal aufhältigen Personen“ machen. Jede_r, der/die einmal mit dem Zug aus Italien oder nach Deutschland gefahren ist, wird bemerkt haben,  dass die Polizei zumeist nur migrantisch „aussehende“ Menschen kontrolliert. 
 
Text von der Plattform Bleiberecht  

http://www.plattform-bleiberecht.at/

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