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Die Verflixtheit der Wörter

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Der Bibliothekar Wurm saß in der Bibliothek und war in seine Arbeit vertieft. Als dann der Tutor Krautfleckl kam und ihm sagte, welche Bücher er für die nächste Lehrveranstaltung bestellen sollte, war dabei ein Titel namens „Die Kunst des Seins“, worauf der Bibliothekar Wurm sagte, dass es sich wohl um den Titel „Die Kunst des Sehens“ handeln müsste, weil ein Buch mit dem Titel „Kunst des Seins“ es wohl unmöglich geben könne, weil nämlich Sein ist und keine Kunst sein kann, Kunst könne aus dem Sein hervorgehen, aber erst durch Tätigkeit, die aber noch keinesfalls mit dem Sein identisch wäre, weil dieses eben nur ist und man die Frage, ob das Sein eine Kunst ist, so gesehen gar nicht stellen könnte, und dieser Titel so gesehen eine Tautologie wäre. Worauf der Tutor Krautfleckl zum Bibliothekar sagte, ob er – der Bibliothekar – das so einfach wie ein Diktator für die ganze Welt bestimmen könne, ob Sein nicht eben genau so eine Kunst sei wie eben alles zu einer Kunst werden könne, eben auch das Sein. Da sagte der Bibliothekar Wurm, daß so etwas nie und nimmer möglich sei, weil Sein einfach Sein ist und sonst nichts, und man höchstens sagen könne: „Die Kunst des Lebens“, aber doch niemals die Kunst des Seins“. Die neben dem Tutor stehende Studentin Kienast sagte, daß sie gleich gehen müsse, weil sie sonst einen Parkzettel auf ihrem Auto haben würde, was wiederum den Bibliothekar nicht interessierte, weil er zuvor das mit dem Sein klären wollte, und zu diesem Zweck gleich das große Philosophische Wörterbuch zur Hand nahm und daraus den Artikel über das Sein vorzulesen begann, der sich über sechs Seiten erstreckte.

Der Tutor Krautfleckl hörte die vorgetragenen Worte und war von ihrer Erhabenheit zutiefst in seinem Sein ergriffen, die Studentin Kienast warf bereits nach der dritten vorgelesenen Seite des besagten Lexikonartikels das Handtuch bzw. die Bücher, die sie sich ausleihen wollte, auf den Tisch zurück und lief wutentbrannt aus der  Bibliothek  zu ihrem Auto, auf dem bereits ein großer schöner Parkverbotszettel mit einer saftigen Geldstrafe hing. Der Bibliothekar Wurm aber rief  nach erfolgreich absolvierter Lesung – er hatte sich bei den sechs engbedruckten Seiten kein einziges Mal verlesen! – die Buchhandlung Strolz an und bestellte den besagten Titel: „Die Kunst des Sehens“, woraufhin ihn die Buchhändlerin berichtigte, indem sie sagte, dass es besagten Titel leider nicht gebe, sie aber vom selben Autor ein Buch mit dem Titel „Die Kunst des Seins“ haben würde und ob der Bibliothekar vielleicht dieses  meinen würde. Darauf knallte der Bibliothekar den Hörer auf den Apparat, erhob sich von seinem Stuhl und verließ, die Tür laut hinter sich zuschlagend, die Bibliothek. Für heute hatte er genug getan.

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Helmut Schiestl

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