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Christoph fand im Wald einen Schuh – fünf Ministorys für Erwachsene

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Christoph fand im Wald einen Schuh. Stand mit dem Schuh unter der Tür und sagte: „Schaut her, ein Schuh!“. Sonst nichts. Also nahm man es nicht ernst, also ließ man ihn. Dann ging Christoph wieder nach oben in sein Zimmer und sah fern. In seinem Zimmer standen die vielen kleinen bunten Autos alle im Spalier und auch die Modelleisenbahn hielt inne. Ottilie rührte inzwischen den Punsch an, und schnitt Brot und Wurst.  Pranz und Gerhard saßen da und sahen ihr zu. Draußen begann es schon finster zu werden. Ottilie erzählte von ihrem Leben und ihren Beziehungen. Als der Punsch fertig war, servierte sie ihn den beiden Männern. Diese tranken ihn und freuten sich darüber. Wie auch nicht. Christoph kam schließlich wieder herunter und trank nun ebenfalls Punsch. Den Schuh hatte er weggeworfen. Er schwieg. Alle schwiegen und tranken den Punsch.

Peter hatte eine Idee. Er packte die Orange, die er nicht mehr essen mochte, weil sie ihm
wahrscheinlich nicht schmeckte, weil er glaubte, daß sie so schmeckte wie die erste, die er
gegessen hatte und die ihm überhaupt nicht geschmeckt hatte, und weil er sie nicht einfach
wegwerfen wollte- schließlich sah sie ja nicht verdorben aus-, wickelte er sie in braunes
Packpapier, gab sie in einen mittelgroßen Karton und schickte sie seiner Freundin. Er schrieb auf
den Karton „Vorsicht- nicht stürzen- Kunstwerk!“ und „Work in Progress“. Er dachte, daß wenn seine
Freundin die Orange bekam und sie auspackte, wird diese sicher schon faulig sein oder schimmlig,
also zumindest anders als sie jetzt war, schön und rund und  von oranger Farbe  glänzend, um nicht zu sagen: erotisch.

Georg ging in die Bibliothek und las die Zeitung von vor fünfzehn Jahren. Und ihm fiel auf, daß
diese damals ganz anders aussah als heute. So viel hatte sich also verändert. Klar, er
selbst hatte sich natürlich auch verändert in den fünfzehn Jahren, so hoffte er zumindest, oder.
Nein, eigentlich nicht. Denn er wollte nicht älter geworden sein, er wollte keine grauen Haare
bekommen haben, die er ohnehin nicht bekommen hatte, keine zusätzlichen Falten im
Gesicht. Nein, das wollte er nicht. Aber die Zeitung hatte sich verändert schon in ihrem Layout hatte sie sich verändert.  Georg suchte etwas und fand es nicht. Das beunruhigte ihn. Er hätte es eigentlich finden müssen. Es hätte eigentlich drinnen sein müssen. War es aber nicht. Dafür waren fünfzehn Jahre übers Land gezogen. Und er hatte sich nicht verändert.
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„Ich könnte dich erwürgen…“, sagte die Depressive zum weniger Depressiven beim Philosophischen  Cafe, „… du hast doch alles, was du brauchst, Arbeit, Wohnung, Freunde.“ „Aber ich war hundert Mal unglücklich verliebt…,“, erwiderte darauf der weniger Depressive. Der neben ihnen sitzende Schinkenfleckerln  essende  nichtdepressive Hobbyphilosoph aber sagte: „Sei doch froh, daß du hundert Mal verliebt warst!“ – „Wie kann man sich hundedrt Mal verliebt haben?“, fragte darauf die Depressive.  – „Das wirst du nie verstehen“, darauf wieder der weniger Depressive. – „Die Krise des Einzelnen ist die Krise des Ganzen“, sagte darauf der Referent und leitete damit wieder zum ursprünglichen Thema zurück. Dieses hieß soziokulturelle Präferenzen in postmodernen Wachstumsgesellschaften.

Herbert liebte Nina. Und da er ein schüchterner Mann war, lud er Nina in ein Bierlokal ein, in dem es sehr laut war, so daß man kaum sein eigenes Wort verstehen konnte. Dort sagte er
Nina genau in dem Moment, wo die Musik am lautesten war, daß er sie liebe und ob sie seine Liebe erwidern könne.  Nina aber – in der Meinung, er sage nur etwas über die zu laute Musik – bejahte umgehend seine Aussage. Das wiederum freute Herbert, und alle Schüchternheit fiel von ihm ab und er umarmte Nina und gab ihr einen knalligen Kuß auf ihre bierfeuchten Lippen. Und von nun an waren die beiden ein Paar.

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Helmut Schiestl

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