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Liebster Jesu mein …

Palmsonntag, schwer liegen die Wolken über dem Inntal. Fahrt mit dem Bus über die Dörfer nach Hall. Die letzten Teilnehmer/innen der eben zu Ende gegangenen Palmprozession eilen mit hochgeschlagenen Krägen nach Hause. In Hall angekommen, Gang in die fastenviolett verhüllte Pfarrkirche. Fast menschenleer. Nur schütter besetzte Kirchenbänke. Mitten im Hauptgang sitzt ein Akkordeonist und spielt einen Tango. Schön hallen die für die große barocke eher ungewöhnlichen Rhythmen durch das Kirchenschiff.
Palmstangen stehen in den Kirchenbänken, vorne am Altar der Palmesel. Am Vormittag wurde er in einer Prozession durch die Stadt gezogen. So wie schon seit hunderten Jahren wahrscheinlich. Ich denke, würde ein Bischof oder gar der Priester sich dieses tierischen Gefährtes bedienen, wie würde es aussehen und wie würde das ankommen? Wäre das nun eine einzigartige Sensation, von den Medien gierig aufgegriffen und von den Intellektuellen weltweit zur Deutung freigegeben? Oder wäre es der Abgang der Kirche oder des Papsttums in die völlige Bedeutungslosigkeit? Egal. Es wird nicht geschehen.
Das Konzert ist zu Ende. Wieder hinaus in das kalte Wetter. Ostern ist ja heuer sehr früh und deshalb die fast winterlichen Temperaturen gar nicht so ungewöhnlich wie man sie vielleicht empfinden mag. Es fröstelt einen, aber es fröstelt einen nicht innerlich. Nur außen ist es kalt. Drinnen aber, drinnen hat man die Musik. Die eben gehörte. Die noch lange nachhallt. Buxtehude, Strawinsky, auf dem Akkordeon gespielt, von Peter Bombardelli, einem noch jungen Akkordeonisten, den ich voriges Jahr schon beim 1. Haller Orgelfestival gehört habe. Auch damals schon hat er dem doch so sehr als Volksmusikinstrument verschrienen Gerät ungewöhnliche Töne entlockt.
Noch Schöneres dann am Abend im Salzlager Hall. Dietrich Buxtehudes „Membra Jesu nostri“. Übersetzt: „Die allerheiligsten Gliedmaßen unseres leidenden Jesus“) Ein von seinem Titel her schon sehr schräges Werk, würde man es heute so komponieren und benamsen, würde man sich damit jeden Spott und Häme einholen, so viel ist mal sicher. Der im schwedischen Helsingborg geborene deutsche Komponist – er lebte als Organist in Lübeck und war ein Zeitgenosse Johann –Sebastian Bachs – komponierte das Werk um 1680, also im ausgehenden 17. Jahrhundert. Zur Grundlage dienten ihm mittelalterliche Texte des Arnulf von Löwen, die in der Zeit der pietistischen Frömmigkeit sozusagen wiederentdeckt wurden Die protestantische Hingabe an das Leiden Jesu mutet uns heute vielleicht ein wenig fremd an, denken wir dabei doch eher an katholische Rituale, wie sie zum Teil noch in den kirchlichen Bräuchen rund um die Osterzeit, etwa mit Palmprozessionen und Heiligen Gräbern und ähnlichem mehr, bekannt sind. Doch auch die großen Bach’schen Passionen, nach den Evangelisten Matthäus und Johannes, kommen ja aus der protestantischen Tradition und gehören schon lange zu den Höhepunkten des österlichen Konzertprogramms.
Nun, das Haller Salzlager war fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Und die Besucherinnen und Besucher, darauf eingestimmt in einer sehr lehrreichen Einführung von Gerhard Crepaz, erwarteten sich etwas Schönes und vor allem selten Gehörtes und bekamen das dann auch.. Das Ensemble La Divina Armonia und das Collegium Vocale Salzburg unter der Leitung von Lorenzo Ghielmi breiteten das streng gegliederte Chor- und Instrumentalwerk mit seinen vielen Soloarien und Chören gekonnt und routiniert auf.
Es fehlt hier der Platz, dieses Werk in seinen Texten zu deuten oder auf die einzelnen Arien und Chöre ausführlicher einzugehen. Das schön gemachte Programmbuch bietet ja auch die deutsch übersetzten lateinischen Texte an und so kann sich, wer will, darin vertiefen und in eine noch sichtlich von den Folgen des erst wenige Jahrzehnte zurückliegenden Dreißigjährigen Krieges gezeichneten Welt eintauchen, in der der Schmerz und das Leiden nicht eine wie heute wegverdrängte und durch mediale Wohlfühlprogramme zugekleisterte Realität war. Etwas, was einen wahrscheinlich Tag für Tag in irgendeiner Form sicht- und spürbar war.
Alles das in eine heutige durchtechnisierte und medialisierte Welt zu übertragen, ist ein spannendes Unternehmen. Was konkret heißt: Irgendwann einmal brummte ein Handy, eine Frau machte sich zwei Stuhlreihen vor mir mit einer Flasche Mineralwasser bequem, und ich fragte mich schon, ob das wohl gut geht ohne Gläserklirren – es ging gut, soviel sei verraten – und die erotisch gekleidete Violinistin ließ mich für einen kurzen Moment den Wunsch in mir entdecken, der schöne braune Violenkörper zu sein, der sich da an ihre nackte schöne Haut schmiegte.
Wobei wir wieder beim Titel wären: Es geht darin ja um die Körperglieder, des geschundenen Jesus, von unten – also den Füßen – beginnend bis hinauf zu Brust und Herz und schließlich Herz, wo es etwa zur Seitenwunde heißt: Sei gegrüßt, Seite meines Erlösers, in welcher der süße Honig verborgen ist, in welcher sich die Kraft der Liebe zeigt, aus welcher die Quelle des Blutes sprudelt, das die schmutzigen Herzen wäscht. 
Alles das verspricht nicht viel, wenn man es wörtlich nimmt, und wenn man es unter der Last des persönlich erlebten und gespürten Schmerzes mühsam ausgräbt, dann ist es wahrscheinlich auch nicht der geschundene Körper, wie er uns vielleicht noch in den medial vermittelten Foltergefängnissen dieser Welt vor Augen geführt wird, sondern der Verlust der geliebten Partnerin oder des geliebten Partners oder der eines Kindes. Und darüber hallt die Frage des Warums und kein noch so geschundener Gott vermag uns wahrscheinlich darüber zu trösten. Und trotzdem: Musik fließt uns zu, lässt unsere Herzen übergehen. Über Jahrhunderte hinweg vermag sie uns zu trösten oder uns aufzurichten. Und deshalb abschließend Steh auf, meine Freundin, meine Schöne, und komm, meine Taube in den Felsenklüften, in den Steinritzen.

http://www.osterfestival.at/

www.youtube.com/watch

Foto: www.jesuitenkirche-innsbruck.at/

Helmut Schiestl

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