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Innsbruck erFAHREN- Die Stadt aus einer anderen Perspektive

 Ich habe einen Halbonkel. Was ist ein Halbonkel? Das ist der Halbbruder meines Vaters. Mein Halbonkel ist etwas besonderes. Nicht nur, dass er einen besonderen Verwandschaftsgrad zu mir hat, sondern in vieler Weise einfach ein besonderer Mensch ist. Falco ist erst 25 Jahre jung und für mich eher wie ein Bruder, als Onkel. Aber Falco hat noch mehr vorzuweisen. 
Für ihn ist das Leben ein bisschen anders, wie für die anderen. Er denkt in einem besonderen Muster, ist höchst musikalisch und lebt in einem anderen Rhythmus. Falco ist Autist.

Durch seinen Autismus nimmt er die Welt anders wahr und erlebt verschiedene Alltagssituationen unterschiedlich. Während Menschen ohne Autismus flexibler sind, braucht Falco in bestimmten Lebensbereichen, wie etwa dem Arbeitsplatz eine gewisse Routine. Er bringt Aufgaben anders zu Ende und wenn er etwas nicht möchte, kann er auch nicht gut damit zurechtkommen oder sich anpassen. 
Aber Falco hat ein besonderes Hobby: Er reist gerne. Seit frühester Kindheit hat er zuerst mit seinem Vater die Straßenbahnen Münchens erkundet und seit fast 10 Jahren befährt er ganz Europa. Dabei ist es ihm egal, ob es Bus, Bahn oder Tram ist. Für Falco zählt auch nicht das Ziel, sondern die Reise. 
Letztes Jahr hat er im August 15 Länder auf diese Weise entdeckt. Er war in Oslo und Stockholm unterwegs, in Holland, Dänemark, Polen und Tschechien, Bulgarien und Ungarn und viele weitere Länder. 
Gestern hat er mich in Innsbruck besucht. Wir haben uns das erste Mal seit vielen Jahren wieder gesehen und davor nur Mailkontakt gehabt. 
Natürlich war es klar, dass Falco auch die Buslinien der IVB erkunden möchte. Das letzte Mal war er vor 8 Jahren in Innsbruck. "Die Linie R ist da aber noch anders gefahren", bemerkt er sofort, als er den Fahrplan studiert. Für Falco ist alles interessant, was irgendwie mit Verkehr zu tun hat. Man merkt auch sofort, was für ein Wissen er hat. 
"Die IVB benutzt sehr viele Mercedes Citaro" klärt er mich auf. "Aber noch die ältere Generation, die neuen haben eine rundere Front. In München fahren die." 
So genau hatte ich die Busse noch nie betrachtet, aber jetzt beim genauen Hinsehen merkt man, was das für ein Typ ist. Falco entscheidet sich für die Linie J – Nordkette- Patscherkofelbahn. 
Während wir im Bus sitzen und die Fahrt Richtung Hungerburg aufnehmen beginnt er von sich zu erzählen. "Ich bin heute schon um 4 Uhr früh gestartet. Meistens fahre ich an die 14 Stunden mit den Bussen und Bahnen. Am Besten ists wo Wälder sind, oder wo es Berge hat. Da kann man immer sehr toll die Landschaft genießen." 
Als wir an der Endstation Nordkette ankommen, bleiben wir im Bus sitzen und warten, dass er wendet. Falco kramt einen Walkman hervor und steckt sich die Kopfhörer ins Ohr. "Das mach ich immer so. Du musst Musik hören beim Fahren. Am Besten ist Klassik." 
Als der Bus Richtung Patscherkofelbahn fährt ist Falco nicht mehr ansprechbar. Er hört seine Musik, meistens Klassik, genießt die Fahrt durch die Wälder Richtung Igls und die Kurven. 
Für mich ist es auch das erste Mal, dass ich bewusst eine Busfahrt mit erlebe. Durch die Stadtteile, durch welche die Linie J fährt war ich vorher noch nie gekommen. Es ist interessant, was für Menschen im Bus Platz nehmen, welche Autos an einem vorbei fahren. Falco lächelt die ganze Fahrzeit über. 
Oben bei der Patscherkofelbahn haben wir kurzen Aufenthalt. Falco schaltet seinen Walkman aus und zeigt stolz seine Musiksammlung. Neben dem Walkman führt er noch zwei MP3-Player und einen I-Pod Nano mit sich. 
"Der wird aber nur auf Zugfahrten benutzt. Der ist viel zu wertvoll, da muss man gut darauf aufpassen!" Dass er noch Kassette hört findet er auch toll. An die 250 Stück hat er  bereits, die alle durchnummeriert und beschriftet sind. "Meine eigene Kassetten S-Bahn Linie", erklärt er mir. Wir fahren wieder den Weg runter nach Innsbruck und noch intensiver als vorher genieße ich richtig das unterwegs sein und die Abwechslung, die sich vor dem Fenster abspielt.
Am Nachmittag treffe ich Falco nochmal, davor hatte ich zu tun gehabt. Mittlerweile ist er fast alle Busstrecken einmal durchgefahren. Die Linie A Richtung Allerheiligen hat ihm am besten gefallen. Alle Strecken, die bergauf führen sind ein Genuss für ihn. Genauso wie Fichtenwälder.
Später tauschen wir uns über unsere Reisen aus. Er war in mittlerweile fast allen größeren Städten Europas unterwegs und kann auswendig sagen, welche Tarife bei welcher Bahn am günstigsten sind. Er empfiehlt mir über 20 Strecken und Städte in Deutschland.Seine Lieblingsstrecke ist von Offenburg nach Konstanz durch den Schwarzwald.  
Am Eindrücklichsten war für ihn der Verkehr und die Reise in Spanien und Italien. "Da war Stau in Rom, wir standen fast eine Stunde im Bus, das war herrlich", freut er sich. 
Wenn er nicht auf Reisen geht, spielt er für sein Leben gern Klavier. Seit Kindesalter kann er das und merkt sich schnell Melodien oder improvisiert auch. 
Autisten haben Inselbegabungen. Fähigkeiten, die Normalmenschen meistens verborgen sind. Sie können mathematische Rätsel in Sekundenschnelle lösen, haben fotografisches Gedächtnis, oder in Falcos Fall eine sehr hohe musikalische Begabung, dass ihm erlaubt sehr schnell sehr gut Klavier zu erlernen und zu spielen. 
Autismus hat nichts Behinderung zu tun. Das verstehen leider nur die wenigsten. Auch Falco hat vorallem in seinem Job als Reinigungspersonal darunter zu leiden. "Ich denke anders, aber ich bin nicht dumm", stellt er mit klaren Worten fest. 
Das merkt man auch, wenn man sieht, was er schon alles gesehen hat und sich durch Europa bewegt, ohne ein Wort Englisch zu sprechen. Meistens fährt er in den Zügen durch, wenn er doch einmal in einer Stadt übernachtet, wie etwa in Oslo, dann schreibt er auf ein Blatt:
"One night = € ??"

Das reicht aus, um durch die Welt zu kommen. Sein Höhepunkt waren einmal 18 Stunden am Stück im Zug. Langweilig wird ihm nie dabei. Die Städte besichtigt hat Falco ausserhalb der Buslinien übrigens fast nie. Nur seine Schwester, die in Madrid lebt, hat ihn immerhin mal bewegen können, sich Spaniens Hauptstadt zu Fuß etwas anzuschauen. "Aber nur, weil unbedingt sein musste", grinst er
Noch lebt er bei seinen Eltern, aber er träumt  davon eines Tages vielleicht mal eine eigene Wohnung zu haben. "Mit einer super Busanbindung und Platz für meine Kassettensammlung und mein Klavier." 
Als Falco am Abend wieder zurück nach München fährt und ich am Busbahnhof vorbeikomme, sehe ich die Busse in einem etwas anderen Licht. Man kann sich ein Beispiel daran nehmen, zu entspannen und einfach mal die Welt anders wahr zu nehmen. 
Heute früh habe ich noch eine SMS von Falco erhalten. Gestern war er noch bis nachts um 1 in München unterwegs, heute hat er vor 14 Stunden zu fahren. 

Die Welt einmal durch die Augen eines anderen zu sehen ist ein besonderes Erlebnis. Falco ist in jeder Hinsicht etwas ganz besonderes. 

 

Ines Burkhardt

3 Comments

  1. Schöner Text, ruhig und berührend, ohne je in den Betroffenheitskitsch abzugleiten. Nein, die "Behinderten" brauchen vieles – aber nicht unser Mitleid. Sie sind gut, wie sie sind: Viele haben mehr auf dem Kasten als manche/r "Normale". In alten Kulturen wurden sie als Mittler zwischen den Menschen und der Götterwelt verehrt. Aber in der durchkommerzialisierten Leistungsgesellschaft stören sie – eben weil sie sich eines vom Kostbarsten leisten: ihre Eigenart.

  2. der beitrag gefällt mir sehr gut. werde in zukunft wohl nicht nur an musik, sondern auch an züge und straßenbahnen denken, wenn mir falco in den sinn kommt.

  3. Ja, habe den Text auch sehr schön und einfühlsam gefunden. Weil die Behindertenfrage auch angesprochen wird, möchte ich hier ein doch eher problematisches Erlebnis wiedergeben , das ich vor zwei Tagen in der Maria-Theresien-Straße hatte. Eine als Krankenschwester verkleidete Frau sammelte im Beisein eines Behinderten im Rollstuhl mit einer Büchse für die Malteserhilfe. Da dachte ich doch für einen Moment, hat diese Organisation es notwendig, auf so mitleidige Weise ihr Budget aufzubessern. Das kennt man doch wohl noch aus früheren Zeiten, wo die armen "Krüppel" um Almosen betteln mussten. Den Bemühungen um Integration Behinderter in unserer Gesellschaft erweist eine solche Methode sicher keinen guten Dienst. Wenngleich das Engagement  der in dieser  Hilfsorganisation Tätigen für Behinderte jetzt nicht geschmälert werden soll.

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