“Wo warst du am 11. September 2001?” Diese Frage werden viele ohne große Umwege und langes Nachdenken beantworten können. Wie aber lautet die Antwort auf die Frage “Wo warst du am 1. Mai 2011?” Ein Hypertext von Edin Sasic
Der Pakistaner Sohaib Athar erinnert sich nur zu gut an dieses Datum. Am frühen Morgen des 2. Mai 2011 hörte der IT-Experte Hubschraubergeräusche über seiner Heimatstadt Abbotabad und kurze Zeit später waren sogar Explosionen in seiner Nachbarschaft zu vernehmen. Er nutzte den Kurznachrichtendienst Twitter, um seine
Beobachtungen zeitnah mit anderen Menschen zu teilen. Zu diesem Zeitpunkt wusste er nicht, dass
niemand geringerer als Osama bin Laden von der US-Spezialeinheit der Navy Seals in seiner Nachbarschaft ausfindig und “dingfest” gemacht wurde.

Vor ziemlich genau einem Jahr publizierten Julian Ausserhofer, Axel Maireder und Axel Kittenberger ihre Studie “Twitterpolitik – Netzwerke und Themen der politischen Twittersphäre in Österreich” in Wien. Bei der offiziellen Studienpräsentation waren auch österreichische Twittergrößen (ja, so etwas gibt es), wie der ZIB2-Moderator Armin Wolf, die Journalistin Corinna Milborn (man beachte den Innsbruck-Bezug), Burgenlandpolitiker Michel Reimon, der praktizierende Pastafari Niko Alm und der sonnengebräunte Stefan Petzner aus Österreichs südlichstem Bundesland (komisch, die Sonne war dort doch vom Himmel gefall… achlassenwirdas) anwesend. Unter dem Hashtag #ATPolTwit wurde die Ergebnisse der Studie zeitgleich auch auf Twitter diskutiert.

Etwa zur selben Zeit (Frühjahr 2012) fanden die Innsbrucker Gemeinderatswahlen statt. Die Stadt war voller Wahlplakate – von denen einige dem in Innsbruck vorherrschenden Klima zivilgesellschaftlichen Engagements und der
Rechtsstaatlichkeit Österreichs nicht standhalten konnten. Die Innsbrucker Grünen hatten es sich als einzige der angetretenen Parteien zur Aufgabe gemacht, auf Ihren Wahlplakaten einen
Twitter-Hashtag für diese Gemeinderatswahl zu etablieren um die Diskussionen auf Twitter damit in einem einheitlichen und nachvollziehbaren Stream zu bündeln. Ein gewisser
Rudi Fußi aus Wien hievte den Hashtag später in den Titel seiner
ganz persönlichen Wahlanalyse zur Innsbrucker Gemeinderatswahl. Die Wahl war
geschlagen und ist Geschichte. Und was ist denn nun mit Twitter? Und Innsbruck?

Es waren wohl die gerade beschriebenen Ereignisse, die letztlich die entscheidenden Beweggründe für die Idee zu
#ibktwit und der Realisierung des Experiments darstellten: im Mai 2012 passierte schließlich
das und ein kleiner, aber sehr feiner Kreis von Twitter-Usern begann, seine Tweets zum Alltagsgeschehen in Innsbruck mit dem Hashtag #ibktwit zu versehen. Eine Form von erster “Feuerprobe” erlebten wir beim
Stromausfall vor einigen Wochen. Eine zusammenfassende Chronologie dazu gibt es auf
Storify. Der Kanal ist jedoch nicht ausschließlich in Zeiten des Ausnahmezustands eine
Quelle interessanter Meldungen, sondern bietet die Möglichkeit, verschiedenste Themen des öffentlichen Geschehens in Innsbruck aufzugreifen und zur Diskussion zu stellen (hier eine
Auswahl der bisherigen Tweets im Jahr 2013). Dabei ist jeder der Beteiligten sowohl Konsument als auch Produzent des #ibktwit-Nachrichtenstreams. Der Schlüssel zur Teilhabe ist die Verwendung des Hashtags #ibktwit im eigenen Tweet.

Was kann aus diesem Experiment werden? Man weiß es nicht. Immerhin ist es die Aufgabe der Regierung und der
großen Medienanstalten eines Landes oder einer Stadt, ihre Bevölkerung über die Geschehnisse der Zeit zu informieren. Warum sollen wir selbst Inhalte produzieren und andere damit belästigen oder beunruhigen? Warum sollten wir jene Eindrücke, Bilder und kurzen Filme, die wir tagtäglich wahrnehmen bzw. abfotografieren und abfilmen mit anderen Teilen – ganz besonders dann, wenn diese Medieninhalte aus Unfallmeldungen, Eventtipps und Alltagsbeobachtungen bestehen (Hashtag #ibktwit nicht vergessen) und womöglich eine kritische – aber gesprächsbereite – Haltung zum Stadtgeschehen beinhalten? Im Unterschied zu den bereits erwähnten Städteauftritten (NYC, Linz, etc.) bietet @IbkTwit sowohl die Möglichkeit, Informationen von zB Regierungsparteien im Top-Down-System zu verbreiten, als auch – und ganz besonders – die Chance, sich als interessierter Bürger selbst zuzuschalten und beizutragen. Eine beispielhafte Symbiose von Top-Down
UND Bottom-Up.
Die Frage lautet also nicht: “Warum?” – sondern “Warum eigentlich nicht?”
“I love fools’ experiments. I am always making them.”
(“Charles Robert Darwin”)
P.S.: Jeder mit PC, Laptop, Pad/Tablet oder Smartphone und Internetverbindung kann unter http://twitter.com/ibktwit mitmachen.
Und was lernen wir daraus? Dass die Politik immer farbloser wird, immer machtloser und uns die Wirtschaft fest im Griff hat. Da können wir noch so viele bunte Kreuzchen setzen.
Und wenn Sie gerade nichts zu tun haben: Zur Zeit läuft ein interessantes Intervuew auf Ö1. Der Mitherausgeber der FAZ Frank Schirmacher hat ein interessantes Buch geschrieben"Ego, das Spiel des Lebens". Kann noch eine Woche lang auf Internet nachgehört werden.
Joachim Rohloff hat zu diesem interessanten Buch einen interessanten Beitrag auf Merkur geschrieben. Der Titel: "Sorgfaltspflichten. Wenn Frank Schirrmacher einen Bestseller schreibt."
Kann noch sehr lange im Internet nachgelesen werden.
Edin
Die gelinkte Rezension von Joachim Rohloff bezieht sich ja hauptsächlich auf ein früheres Buch von Frank Schirmacher und besteht eigentlich fast nur aus Sinn- und Druckfehleranalysen, was zwar, zugegeben, auch nicht für das Buch spricht, vielmehr gegen ein schlechtes Lektorat und letztlich wohl gegen den das Buch produziert habenden Verlag. Da ich weder das von Rohloff zu Tode kritisierte Buch von Schirmacher noch dessen Neues, auf das sich mein Tipp bezogen hat, gelesen habe, muss ich mich eines endgültigen Urteils darüber wohl enthalten, zumindest hätte ich noch gerne ein paar andere Rezensionen darüber gelesen. Interessant daran ist aber immerhin, dass eine konservative zeitschrift wie der MERKUR einen doch eher dem konservativen Lager angehörenden Autor kritisiert, um nicht zu sagen, medial hinrichtet. Das kann ja noch eine interessante Diskussion werden.
Für mich ist Twitter eine Art private Nachrichtenagentur, aber auch ein großer Egozirkus. Interessanter als Facebook ist es schon, aber dazu gehört nicht viel.