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Music and the city (Vol. 51): „ÉLÉGIE“

Roland Barthes führt in seinem Text „Die helle Kammer“ zwei Begriffe ein: Studium und Punctum. Vereinfacht gesagt: „Studium“ ist das, was ich analysieren, „studieren“ kann, an das ich ganz souverän mit meinem kulturellen Wissen herangehen kann. Ich interpretiere, was mir vorliegt, was ich sehe. Meine Gewissheiten und mein Wissen leiten mich.

Anders beim „punctum“: Ich bin getroffen. Etwas ist da, das ich nicht einordnen kann. Nicht ich finde und interpretiere etwas in einem Werk, sondern es findet mich, berührt mich. Meine Gewissheiten geraten ins Wanken, mein „Ich“, in dem sich ein ganzer Wust an kulturellem Wissen angesammelt hat, ist verunsichert. Es ist nicht mehr souverän, kann nicht mehr aus sicherer Distanz interpretieren und analysieren.

Der gestrige Abend, an dem das Tanzstück von Olivier Dubois vom Ballet National de Marseille aufgeführt wurde, war ein Abend, an dem ich mir eine Haltung des „punctum“ herausnehmen möchte. Nein muss. Weil ich es mir nicht aussuchen kann. Weil ich nicht mehr souverän und gewissermaßen erhaben über den Dingen throne und sie aus sicherer Distanz interpretieren kann.

(Bild: Arturo Fuentes)

(Bild: Arturo Fuentes)

Ganz generell ist ja die körperliche Präsenz der Tänzerinnen und Tänzer beim Tanz immer ein „Problem“. Denn Körper und die Bewegung kann man nur mit Abstrichen lesen wie einen Text. Der Körper bietet immer, auch wenn er sich streng an Choreographien hält, Unsicherheiten. Er ist ereignis-haft. Unvorhersehbar. Er ist Impuls und zugleich Ausdruck, der niemals ganz in Sinn und in der Interpretation aufgehen kann.

Punctum: Möglichkeit einer Rezeption

In dieser Sache: Die Bezugnahme auf die Duineser Elegien von Rilke ist eine Behauptung, die Olivier Dubois aufstellt. Es gibt zweifellos Bezugspunkte. Doch das gehört zum „studium“, das ich hier bewusst nicht vornehmen möchte. Was ich anbiete ist meine eigene, subjektive Lesart, geleitet von der eigenen Betroffenheit und des subjektiven „Getroffen-Seins“.

Über Bewegung lässt sich nur schwer schreiben. Aber über einen Ablauf, eine Chronologie. Alles beginnt im Dunkeln. Donnergeräusche, Blitze. Ein „Zur-Welt-Kommen“, zumindest aber ein Werden. Eine Entwicklung, die immer wieder zu nichte gemacht wird. Das „Ich“ umgeben von Chaos, Unordnung und Indifferenz, vom denen es sich emanzipieren will.

(Bild: Arturo Fuentes)

(Bild: Arturo Fuentes)

Mein subjektiver Blick richtet sich auf die Tänzer, von denen nur jeweils ein Mann und eine Frau sichtbar werden. Der Rest ist dunkel, fast unsichtbar, nur als Form vorhanden. Wie eine Art von Skulptur, ein Rahmen, eine Einrahmung. Und zugleich auch die Formen, die das „Ich“ umspielen und in Frage stellen.

Mein subjektives Interesse richtet sich auf die Musik. Sie geht über  von den Geräuschen der Natur, Blitz und Donner, in Geräuschmusik, in der erste Akkorde angedeutet werden. Akkord-Tupfer. Erste Klänge, die nicht Natur sind. Danach wird das Geräusch, das bis jetzt in einfach strukturierte Musik eingebettet war, rhythmischer. Kämpferischer. Rhythmisiert. Das „Ich“  kämpft gegen die Indifferenz an. Das Gefühl des Ozeanischen, das auch ein Gefühl des Ertrinkens sein kann, versiegt.

Die Protagonisten des Stücks (jeweils Mann/Frau, komplementär) erheben sich, gehen über die „Skulpturen“ nach oben. Das Streben nach Transzendenz, nach Sinn, nach Souveränität. Begleitet von den Klängen von Wagner, Elegie, die eine immense Klarheit ausdrückt. Wo einst Geräusch war, ist jetzt Musik, streng formal und nachvollziehbar, souverän. Die Geburt der Rationalität und der Souveränität aus dem Geiste des Geräuschs. Schärfe, wo zuerst Indifferenz und unklare Konturen vorherrschten. Auch die Protagonisten stehen jetzt im Licht, sind gut sichtbar, mit allen Konturen. Dann ein Rückfall in die Dunkelheit.

Markus Stegmayr

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