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Von der unzeitgemäßen „Empörung“ über die Gesamtschule

Über ideologische Scheuklappen bei schulischem Leitungspersonal
Josef Christian Aigner

Tirols AHS-DirektorInnen sind mutige Männer und Frauen! Sie haben sich, was man bei diesem Berufsstand schließlich nicht alle Tage erlebt, „empört“ an die Öffentlichkeit gewandt – und das noch dazu gegen den Tiroler Landeshauptmann Platter.

 

Dieser hatte eine heilige (blinde?) Kuh der ÖVP geschlachtet und sich für die Gesamtschule ausgesprochen. Prompt melden sich nun die AHS-DirektorInnen mit den sattsam bekannten, „im internationalen Schulreformdiskurs nicht einmal mehr ignorierten“ (K.H. Gruber, Standard v. 3.9.2012) Positionen gegen diese „bedenkliche“ Entwicklung zu Wort: die AHS-Unterstufe, eine „essentielle Säule des Bildungssystems“, würde „obsolet“ (na und?), obwohl sie (nur sie?) „Garant für ganzheitliche Bildung auf hohem Anspruchsniveau sei“ (nur sie?). Die „staatliche Einheitsschule“ (welche?), die „nur größere Probleme“ schaffe (welche?) und eine „Nivellierung nach unten“ (aha!) drohe.

 

Dies ist wieder einmal ein Beispiel dafür, wie hierzulande bei Bildungsfragen die Realität besonders hartnäckig verleugnet wird. Dabei handelt es sich oft um „Fetische“, die die parteipolitische Identität vieler Damen und Herren zu stützen scheinen: die Studiengebühren zum Beispiel, wo doch dem schlichtesten Sozialdemokraten eingehen müsste, dass Gebühren für die, die sich’s leisten können, samt gezielter Förderung sozial Schwacher gerechter sind als keine Studiengebühren, wo Reiche wie Arme dasselbe leisten, nämlich nichts! Dennoch bekommt Landeshauptfrau Burgstaller, die ein solches Modell vorlegte, von den GenossInnen landauf landab gleich eine übergezogen! Ähnlich ist es auch im Schulbereich, wo die Konservativen Dinge verteidigen, deren fachliche Fragwürdigkeit oder gar Schädlichkeit seit Jahrzehnten erwiesen ist: die Notengebung zum Beispiel, längst als pädagogisch untaugliches Instrument bekannt, kann nicht abgeschafft werden, weil „dann lernen’s nix mehr!“, sagt jeder (Depp?).

 

Die aktuelle Gesamtschuldiskussion zeigt auch in diesem Fall, dass die Empörten sich nicht wirklich mit diesem System beschäftigt haben: alle internationalen Erfahrungen und die Tatsache, dass 98 % der ExpertInnen und die schulisch führenden Länder Europas Gesamtschulsys-teme bevorzugen, werden hier – vom Tiroler Wissenschaftsminister bis zu den Tiroler AHS-DirektorInnen – ausgeblendet. Statt dessen werden ungeprüfte Meinungen zur Verunsicherung der Eltern in die Öffentlichkeit getragen. Und nachdem das ja alles gescheite Leute sein sollen, muss dieses Ausblenden, dem sie erliegen, neben Unkenntnis wohl  – und vielleicht noch schlimmer – aus Ideologie resultieren! Was Marx einst als falsches Bewusstsein verstanden hatte, muss sich tief in die Synapsen der Damen und Herrn gegraben haben, weswegen niemand, auch nicht der Landeshauptmann, „ihr“ Gymnasium, ihre heilige bildungsbürgerliche Ordnung in Frage stellen darf. In der Gesamtschule sind ja schließlich auch die Niveaulosen – „wo  komma ma denn da hin“? Dass es längst differenzierte Förderungsstrukturen auch in der Gesamtschule gibt – die Landeshauptmann Platter übrigens auch fordert –, wird in diesem empörten ideologischen Aufschrei nicht bemerkt.

 

Noch weniger merken diese ideologisch Sehbehinderten, dass wir ja schon seit ewig eine Gesamtschule haben, nämlich die Volksschule! Ein niveausenkender Schultyp? Hier kommt ein weiteres falsches Bewusstsein, das im AHS-BHS-Bereich sehr verbreitet ist, zum Tragen, nämlich dass die Grundschulpädagogik doch nicht so wichtig ist, ein Frauenberuf eben, jedenfalls niedriger einzustufen. Deshalb ist es dort auch nicht so problematisch, wenn die Proletenfratzen die edlen Bildungsbürgerkinder stören.

 

Diese Ideologie übersieht, dass die Volksschule und auch der Kindergarten pädagogisch gesehen anspruchsvoller sind als AHS oder BHS, weil hier die Grundlagen des Lernens und Lehrens gefragt sind. Deshalb sollten die Elementar- und VolksschulpädagogInnen mittelfristig auch gleichrangig an den Unis, und nicht an den Pädagogischen Hochschulen, sozusagen „Sonderhochschulen zweiten Ranges“, ausgebildet werden – schon gar nicht in Tirol, wo die PH bekanntlich aufgrund des falschen Bewusstseins der zuständigen Ministerin derzeit zwei Rektoren hat und auch sonst allerlei Chaos aufweist!

 

Aus fachlicher Sicht ist es jedenfalls bemerkenswert, welch ängstlich verkrustete, als Fachmei-nungen ausgegebene Haltungen in der ChefInnen-Etage unseres Schulsystems und wohl auch von vielen LehrerInnen vertreten werden. Ob eine fundierte Fortbildung (ist dafür nicht die Pädagogische Hochschule zuständig?) hier hilft, ist fraglich – eher bräuchte es eine Art Supervision oder Coaching zur Überwindung der offenbar tief verankerten ideologiebedingten Fehlhaltungen.

 

Freilich sei der Objektivität halber gesagt: es gibt auch schlechte Gesamtschulsysteme, ja – wie es auch schlechte Gymnasien gibt: dort nämlich, wo die Schulleitung schlecht und das Personal nicht gut ausgebildet ist und in Ländern, wo es an Förderung der Bildung – auch im budgetären Sinn – fehlt. Und auch eine ganze Reihe anderer Faktoren, unter anderem die Wertschätzung des Berufsstandes der Lehrerinnen und Lehrer und seiner gesellschaftlichen Bedeutung, wäre hier zu nennen. Diese Wertschätzung wird einem nach so kurzsichtigen Wortmeldungen führender VertreterInnen dieses Berufsstandes von Zeit zu Zeit nicht gerade leicht gemacht.

Univ.-Prof. Dr. Josef Christian Aigner,
Fakultät für Bildungswissenschaften
Universität Innsbruck

9 Comments

  1. Wenn so ein Universitätsprofessor die Gesamtschule fordert, dann muss es ja richtig sein. Nur: Wer hindert denn eineN AbgängerIn der Neuen Mittelschule daran, anschließend eine AHS, BHS zu besuchen? Und wer argumentiert hier elitär, wenn nicht der, der die NIVEAULOSEN und PROLETENFRATZEN automatisch in der NMS vermutet: im Gymnasium sind sie ja (angeblich) noch nicht.

     

    Ideologische Sehbehinderung und heilige Kühe sieht man immer nur auf der anderen Seite, da kann man auch die geheiligte WERTSCHÄTZUNG einmal vergessen. Wer sich für eine etwas differenziertere Argumention interessiert: http://www.profil.at/articles/1227/560/333683/schule-warum-schulsystem-gerechtigkeit

  2. Hoffentlich ist "Lehrer Specht" von Beruf nicht wirklich Lehrer! Wenn doch, wäre "Lehrer Lämpel" ein besseres Pseudonym.

    Jedenfalls hätte der Schreiber (die Schreiberin?) bemerken können, dass die Wörter "Niveaulose" und "Proletenfratzen" ironisch gemeint sind, weil sie Begriffe der Gegner einer Bildung für alle sind, nicht ihrer Befürworter.

    Vielleicht hilft es, die Dinge ganz einfach zu formulieren: Wenn neun- bis zehnjährige Kinder in der Volksschule darauf gedrillt werden, ausschließlich "Einser" zu bekommen, damit sie ja ins Gymnasium kommen, dann geht es nicht mehr um Bildung für alle – das war übrigens das Bildungsziel eines gewissen Humboldt, auf den sich die Gymnasien so gerne berufen, zumindest in Sonntagsreden.

    Den Artikel im Profil habe ich gelesen, ihn als differenziert zu betrachten, halte ich für eine Chuzpe. Als Beispiel für "Ausschöpfung von Begabungsreserven" wird jemand genannt, der ein Gymnasium besucht, weil er mit dem Sohn des Dorfarztes befreundet ist. Das ist schlichter Zufall, man kann es auch Glück nennen. Unter Ausschöpfung von Begabungsreserven stelle ich mir allerdings vor, dass nicht der Zufall das Schicksal bestimmt. (Oder die Freundschaft zu einem Arztsohn.) Fein für ihn, dass er heute Wissenschaftsminister ist. Wobei ich mich zu erinnern glaube, dass dieser vor kurzem für die Gesamtschule eingetreten ist. Das war aber noch vor seiner Tätigkeit als Minister.

    Und um noch etwas zu der grassierenden Diffamierung von Wissenschaft anzumerken: Nicht alles, was ein Universitätsprofessor sagt, ist richtig. Das liegt nämlich im Wesen der Wissenschaft begründet, dass Erkenntnisse sich ändern.

    Allerdings sind im Bereich der Wissenschaft Argumente erforderlich. Und bisher kenne ich keines, das eine Selektierung von zehnjährigen Kindern in "begabte" und "unbegabte Kinder" bildungspolitisch für sinnvoll hält.

     

  3. Das sind die ganz Mutigen, die ananoymen Lehrer Spechts usw. ….

    Und die Uni-Leute-Heruntermacher, wie z.B. einst Jörg Haider im Club 2 einen ihn kritisierenden Kollegen von der Uni Klagenfurt als "sogenannter Herr Professor" bezeichnet hat.

     

  4. Der Kommentar gefällt mir! Das dem so ist setzt allerdings voraus, dass ich mir in Bezug auf die Universitäten bzw. die einerseits ersehnten wie andererseits verteufelten Studiengebühren den Sager „wo Reiche wie Arme dasselbe leisten, nämlich nichts“, (ist das so?) wegdenke.

    Wer kein Geld hat, arbeitet neben dem Studium. Oder –  was der Realität auch nahe kommt – studiert neben der Arbeit. „Leistet“ also, um bei dieser Diktion (muss das sein?) zu bleiben, mehr.

    Oder muss ich mir das so vorstellen: A (wie Arm) studiert Pädagogik. R (wie Reich) auch. Beide zahlen keine Studiengebühren. „Leisten“ also nichts. (Finanztransaktion = Leistungsnachweis?) Wortklauberei, ich weiß.

    Außerdem gehe ich davon aus, dass es auch schlichte Sozialdemokratinnen gibt. Naja, mehr oder weniger…

     

     

  5. Doch ich bin Lehrer und zwar an einer NMS, vormals HS. Was mich an dieser Diskussion vor allem stört, ist eben jene Annahme, dass die NMS bzw. HS automatisch nur für unbegabte (oder auch bildungsferne) Kinder offen steht. Viele meiner ehemaligen SchülerInnen stehen nach abgeschlossener Lehre ausgezeichnet da und verdienen mehr als mancher mit Uniabschluss. Andere haben ihren Weg in der HTL gemacht oder auch ein Studium abgeschlossen. Es gibt viele Gründe für NMS/HS und dieser Bildungsweg ist weder eine Sackgasse noch ein "Abschieben". Im Gegenteil: ein differenziertes Schulwesen bietet eben auch die Chance auf unterschiedliche Biografien, Begabungen und Interessen einzugehen.

    Herr Aigner argumentiert sehr abwertend "Depp?", "ideologisch Sehbehinderten", "ideologiebedingten Fehlhaltungen". Solche Zuschreibungen sind beleidigend und zeigen für mich nur eine echte Argumantation: ich spreche die Wahrheit und alle anderen sind eben ideologisch "behindert". Und genau das ist doch die Art wie ein gewisser Herr Haider seine Gegner verunglimpft hat.

    • Lieber Lehrer Specht!

      Natürlich kenne ich die positiven Seiten der NMS, die dort, wo engagiert gearbeitet wird, oft bessere Ergebnisse erzielen als maches Gym. Insofern schätze ich diese LehrerInnen ganz besonders, vor allem die wenigen Wechsler vom Gym in die NMS.
      Aber insgesamt dürfen die Augen nicht vor der Realität längst überfälliger Änderungen verschlossen werden; wer dies trotz jahrzehntelanger Nachweise (den Wert der Noten z.B.) immer noch tut, ist vielleicht wirklich ein "Depp" (umgangssprachlich") und (ein pointierter Ausdruck, nicht gegen ‚Behinderte‘) "ideologisch sehbehindert", oder?Wie anders sollte man sich diese Ignoranz sonst erklären? "Ideologiebedingte Fehlhaltung" ist deshalb wirklich keine Herabwürdigung, sondern eine erklärende Diagnose.
      Und in manchen Fragen muss (wozu wäre sie sonst gut?) die Forschung sich herausnehmen, näher an der Wahhrheit zu sein als die langläufigen, nicht überprüften pädagogischen "Meinungen", zu denen sich – ähnlich wie beim Fußballnationalteam – ohnehin bald jede/r bemüßigt fühlt.
      Es käme einer Entwertung Ihres und meines Faches gleich, würde man just in der Pädagogik solche Meinungen einfach mit fundierten Ergebnissen der Wissenschaft gleichsetzen. Wozu dann überhaupt dieses Fach???

  6. Vielleicht helfen folgende Artikel weiter, um sich über die Problematik im Bereich "Schule und Bildung" zu informieren. Eine Rektorin und eine Studentin einer PH berichteten im Standard:

    http://tinyurl.com/9lsk3btMarlies Krainz-Dürr, Wo Schule drin ist, kann nur Schule rauskommen

    http://tinyurl.com/8bf99do– Katharina Tiwald, Kollektive Schülerwerdung

  7. Dass die Schule sich ändern muss, ist inzwischen gesellschaftlicher Konsens – wie sie geändert werden sollte, ist eine ideologisch heftig umstrittene Frage. Jedes Schulsystem bildet vor allem das Gesellschaftssystem insgesamt ab und hier zeigen sich in Österreich vor allem zwei Tendenzen: Elitärer Dünkel trifft auf illusorische Beliebigkeit – wie auch "Ideologie" laut Marx nichts anderes ist als eben falsches Bewusstsein. Bekäme wir für jeden selbst ernannten Bildungsexperten, der seine Sau durchs Feuilleton treibt, ein Sternderl – der Schulhimmel erstrahlte wie eine schillernde Supernova.

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