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Und am Abend küssen wir den Osterhasen

Wie der heutigen Ausgabe der TIROLER TAGESZEITUNG gleich auf mehreren PR-Seiten zu entnehmen ist, wurde heute Nachmittag der Advent- und Weihnachtsmarkt eröffnet. Obwohl erst Mitte November, und von weihnachtlicher Stimmung, die sich vielleicht durch eine kleine Schneedecke oder zumindest ein gewisses Angezuckertsein der Straßen und Dächer auszeichnen würde, weder was zu sehen ist, vielmehr der Herbst uns mit rötlichen Farben seine (vielleicht letzten) Tage verschönt, wird hier von einer findigen Geschäfteindustrie ein altes christliches Fest – mit dessen Grundlage heute wahrscheinlich nur mehr die wenigsten Menschen etwas anfangen können – völlig neu erfunden und mit diversen Ingredienzien aus der Volkskultur ein wenig aufgepeppt.
Gut so! Der Rubel bzw. der Euro muss rollen, vor allem in diesen Zeiten. Daher erübrigen sich moralische Entrüstungen, die eh alle Jahre in Form von Leserbriefen eine verständnisvolle Öffentlichkeit findet, nur nutzt es halt nix. Man könnte das Ganze auch lustig finden und dem Weihnachtsfest die letzten Reste Ernsthaftigkeit austreiben, in dem etwa die Bürgermeisterin beim Starten der Weihnachtsbeleuchtung – denn Entzünden wäre im Zeitalter der elektronischen Steuerungen doch nicht mehr ganz passend – gleich einem Osterhasen aus der Krone des Weihnachtsbaumes springen lässt. Oder dutzende von Weihnachtsmännern – und auch Frauen tanzen einen Salsa oder schweben walzertanzend über die Straßen, zu den Klängen einer elektronisch eingespielten Bummerin. Oder wie wäre es gleich mit einer Bikinimodenschau direkt unter den Lauben. Und damit die Models nicht frieren, können ja gleich ein paar Heizpilze aufgestellt werden. Nur schöne goldne Flügel sollten sie tragen, damit sie aussehen wie Engel und viel Flitter in ihren Gesichtern. Aber passt auf, „ein jeder Engel ist schrecklich“:
Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel
Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme
einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem
stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.
Rainer Maria Rilke – Duineser Elegien

Helmut Schiestl

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