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Music and the city (Vol. 22)

Sieht man sich Jean Ziegler an, dann wird deutlich, dass der Trend eindeutig dahin geht, dass man nicht gehaltene Eröffnungsreden veröffentlicht. 

"Wohin führt der Weg? Byung-Chul Han prägt das schöne Bild das Wanderers, der kein Ziel mehr kennt, dieses aber weniger aus den Augen verloren hat und als Verlust erfährt, als vielmehr den Blick auf den Weg selbst gerichtet hat, weniger auf den Endpunkt. Gemeint ist letztlich eine Suspension der Teleologie. Was passiert, wenn man diese Haltung auf die Musik überträgt? Man verliert die üblichen Betrachtungsweise und hört anders: man wird nicht mehr erwartungsvoll auf den Refrain warten, den Sinn und das Zentrum eines Songs, man wird auch weniger den Blick darauf richten, wie sich die Klimax des Songs entwickelt.
 
Unterwegs, als Suchender im Song, der jetzt mehr Track oder auch nur mehr Soundschichtung sein kann, ereignet sich einiges. Man findet Überraschendes vor, dekliniert die Sound- und Klangmöglichkeiten durch, ganz so als ob man alle möglichen Gegenstände auf den Boden fallen lässt, nur um hören zu können, wie sie klingen. Der Ziellose wird sich auch für den Zufall zu interessieren beginnen: was passiert im Augenblick, im Jetzt? Wenn es sekundär geworden ist, wie der Song sich entwickelt, dann sind alle Ohren auf die Präsenz der Substanz geworfen, die allerdings immer auch im Werden ist – ein Widerspruch, der fast nur von Musik gezeigt werden kann.
 
Ist der Blick erst geweitet, dann wird man aus den Vollen schöpfen müssen. Es wird nicht mehr ausreichen, sich in einem System aufzuhalten, das man auch unzureichend mit der Zuschreibung „Pop“ bezeichnen könnte. Pop bezieht sich auf Pop und wiederum auf Pop, ist ein hermetisches System, dem nur eine beschränkte Anzahl an Klang- Akkord- und Strukturmaterial möglich ist. Man wird also nicht nur aus den Vollen schöpfen müssen, sondern auch Genre, Zielrichtung und Vorgaben verlassen müssen und ein ausreichend komplexes musikalische System finden müssen, das eine solche Fülle und zugleich auch einen solchen Möglichkeitsraum eröffnet.
Man wird sich also mit so vielem beschäftigen müssen, das im sogenannten „Mainstream“ kaum eine Rolle spielt: mit Mikrotonalitäten, mit Polytonalität, mit einer Vielzahl an komplexen Akkordvariationen, mit dem Zufall, mit Rhythmik, mit der Inklusion von Geräuschen. Musik, welche aus den Vollen schöpfen will, muss sich diesen Anforderungen stellen, ebenso auch die HörerInnen von solchen Stücken. Musik, die auf diese Weise operiert, kann niemals stillstehen und zum Genre gerinnen und somit starr und unbeweglich werden. Sie fließt, ist lebendig und speist sich aus einer Vielzahl von Quellen. Diesen Beweis soll der folgende Abend und die folgenden Abende antreten."
 
(Dieser Text wurde gestern im Rahmen von "Tonmanagement! Rückschrittsakrobatik" im KOOIO nicht vorgetragen.)

 

Markus Stegmayr

5 Comments

  1. bezüglich: Pop bezieht sich auf Pop und wiederum auf Pop, ist ein hermetisches System, dem nur eine beschränkte Anzahl an Klang- Akkord- und Strukturmaterial möglich ist. dass das so ist, ist, wie du weißt, ja gerade das gute an popmusik, wie es ja auch das gute an popmusik ist, dass sie keine kunst ist, sondern eben popmusik. komplexität durch einfachheit, sodass es eben nur die richtigen verstehen können, ist mir ja immer noch lieber als einfache komplexität, die auch alle gefühlstauben dummköpfe verstehen und fühlen können. aber sehr viel besser hat das naturgemäß der chefideologe höchstselbst aufgeschrieben: http://www.sueddeutsche.de/kultur/zur-debatte-um-die-retro-mode-was-james-bond-und-die-popmusik-gemeinsam-haben-1.1222334

    • Lieber Martin!

      Schön, dass du dich in dieser Sache zu Wort meldest.

      Ich gebe dir in JEDEM Punkt Recht. Aber bei unserem Projekt im Kooio geht es eben darum zu zeigen, dass es noch Musik neben Popmusik gibt. Die Sache sollte auch keine Hierarchie aufbauen und sagen, dass Popmusik, da musikalisch relativ einfach gestrickt , weniger interessant oder reichhaltig sein kann. Natürlich ist Popmusik interessant, die sich ja einen ganzen Fundus an Möglichkeiten hat, auf die sich sich beziehen und die sie zitieren kann. Wir bemühen uns aber zu zeigen, dass musikimmanent noch viel mehr möglich ist, als es im Mainstream und in den Hörgewohnheiten von vielen verankert ist: sagen wir es durchaus so: die Eröffnung eines Möglichkeitsraumes.

      Mich würd es freuen, wenn wir das mal in real diskutieren könnten.

  2.  Sapperlot! "komplexität durch einfachheit" und die damit postulierte  "Eröffnung eines Möglichkeitsraumes" … Derrida würde vermutlich onanierend im Grab seiner Möglichkeiten rotieren, so er das Ringelschwänzchen seiner Nichtexistenz erheischte – P.S.: Burschen, ich mag euch!

    • @Trotteltopf: Ich muss festhalten: ich stehe hier, auch wenn ich einige der Thesen von Martin teile, ganz wo anders, wenn ich den Möglichkeitsraum des musikalischen Materials per se postuliere. Die "Komplexität durch Einfachheit" ist für mich nur bedingt dazu geeignet, die musikimmanante Erweiterung dieses Raumes und damit der Materialverwendung zu ermöglichen. Ich glaube darüber hinaus auch nicht, dass man automatisch in die Nähe von Prog-Rock kommt, wenn sich das Material seiner eigenen Einfachheit "bewusst" wird.

       

       

  3. @markus: weiß ich natürlich dass es im kooio um was anderes geht (schade dass ich es versäumt habe btw, aber war ja nicht das letzte mal) und würde natürlich meinerseits auch nicht so vermessen sein, dem gegenstück zur popmusik das existenzrecht absprechen zu wollen. im gegenteil finde ich es ja gut, dass es (immer noch oder vielmehr jetzt langsam schon wieder) halbwegs klare trennlinien dazwischen gibt und habe es lustig gefunden, dass du in deinem text dazu fast die gleichen formulierungen findest wie dd. aber das ließe sich führwar irl besser diskutieren.

    @trotteltopf ja eh, nur genau umgekehrt.

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