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Die grenzenlose Weite – weiteRe Erfahrungen am Berg und Meer

Es gibt nicht viel, was man am Abend unternehmen kann, wenn man kurzsichtig ist und die Brille kaputt geht. Um der Langeweile zu entfliehen, habe ich mich zu einem Spaziergang durch einen Ort entschlossen, wo man alles auch ohne Brille beobachten kann. Ich habe die Augen geschlossen und bin durch die Bilder, Erinnerungen und Gedanken in meinem Kopf spazieren gegangen – ein Spaziergang, den jeder immer machen kann.
 

Ich stehe am Strand und richte meinen Blick auf das Meer. In Ligurien, einem schmalen Landstrich in Norditalien – hinten Hügel und vorne Meer –  habe ich die ersten 20 Jahren meines Lebens verbracht. Jetzt lebe ich in Tirol – hinten Berge und vorne Berge. Dass es aber zwischen Ligurien und Tirol keine große Unterschiede gibt, habe ich am Ende meines Spazierganges festgestellt.

Am Meer erlebt man die Weite, und in der Ferne ist der Horizont, wo das Meer den Himmel trifft. Dieses scheinbare Treffen irgendwo im Blauen findet nie statt. Der Horizont stellt für mich keine Grenze dar. Nicht nur weil er nicht existiert, sondern, weil er sich jederzeit verschieben lässt, indem ich meinen Standpunkt ändere. Ich muss mich bewegen, ich muss aufs Meer, Kräfte und Mut sammeln, um dort in der Weite das Mehr zu erfahren. Solange ich im sicheren Hafen bleibe, verpasse ich die Chance, das Weitere über den Horizont hinaus kennenzulernen.

Ich bin nun unterwegs zum Berggipfel. Wasser und Regenschutz habe ich eingepackt zusammen mit einer ganzen Menge Mut. Anstrengend ist der Weg, und alleine die Auseinandersetzung mit meinen Kräften, um das Ziel zu erreichen, ist eine Belohnung für diese Mühe. Ich habe die Bergspitze erreicht und stehe oben. Alleine. Um mich herum erstreckt sich die Weite. Ich phantasiere über das Treffen der Berggipfel, die mich umarmen, mit dem Himmel. Ein Treffen, das nie stattfindet. Der Berg, den ich gerade bestiegen habe, stellt für mich keine Grenze dar, sondern bietet mir die Möglichkeit, an meine Grenzen zu gehen – und über diese hinaus.

Unterschiedliche Landschaften sind wie Menschen und das Kennenlernen von ihnen. Egal wie unterschiedlich sie in ihrer Kultur, Sprache usw. sind, wenn man die „Gesellschaftsbrille“ absetzt, sieht man dieselben Ähnlichkeiten wie zwischen Ligurien und Tirol und erlebt man das Weitere und die Möglichkeiten, die dies uns bietet. Ähnlichkeiten, die mit der Außenform nichts zu tun haben und die aber mit dem Wesentlicheren und uns Vertrauten – sei es Ligurien oder Tirol – eng verbunden sind.

Genauso wie die ersten Seefahrer und die Bergsteiger Richtung Meer oder Berg aufgebrochen sind und sich und uns neue Welten eröffnet haben, so sollten die Menschen den „mutigen“ Schritt machen, auf andere Menschen zu zugehen, die für „normale Brillenträger“ anders sind. Viele Seefahrer und Bergsteiger haben ihre Reise nicht bereut.

Entstanden in der Medien- und Schreibwerkstatt für Migrant/innen des Österreichischen Integrationsfonds, Autorin ist unsere sehr ambitionierte Teilnehmerin Silvia Cevasco! Bild ebenfalls @ Silvia Cevasco

 

Laura Masuch

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