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Wie es war

Marina war Moser wieder eingefallen. Er hatte sie neulich erst nach langer Zeit wieder mal getroffen. Sie arbeite jetzt als mobile Sterbebegleiterin in einer Hospizeinrichtung, hatte sie ihm gesagt. Früher mal war sie Model gewesen, kein Model-Star, nur so für kleinere Modefirmen halt, wie es viele gab. Und als sie auch dafür zu alt geworden war, oder sie genug hatte von den vielen stressigen Fotoshootings, hatte sie einen Kurs in Sterbebegleitung absolviert.

Was sie den Sterbenden wohl sagte, fragte sich Moser, ja wenn diese überhaupt noch zuhören wollten oder konnten. Dass das Leben schön war, dass sie jetzt aber am besten davon loslassen sollten, alles das, was sie erlebt hatten, auch das Unangenehme, Hässliche, schwer Verdauliche, damit sie völlig entspannt in das… ja was eigentlich, andere … zukünftige Leben eingehen konnten. Nein, das sagte sie ihnen sicher nicht. Das wäre doch eine Anmaßung gewesen.

Moser war ganz überrascht gewesen, dass sie sich für so eine schwere Herausforderung entschieden hatte. Gefragt hatte Moser sie danach nicht. Weil sie ihn so mit ihren Erzählungen eingedeckt hatte, dass er gar keine Gelegenheit mehr fand, sie noch danach zu fragen. Alles ging in einem Satz bei ihr. Und auf ihre Kürzest-Erzählungen waren dann noch Erinnerungen an ihrer beider gemeinsam erlebter Zeit in den achtziger Jahren erfolgt. „Weißt du noch, als wir …“, und „erinnerst du dich noch, als ich…“ waren so die fixen Bestandteile ihrer Rede an ihn gewesen, die er immer wieder mit kurzem Nachdenken unterbrechen musste, ehe ihm diese oder jene Episode wieder einfiel, die sie gemeinsam erlebt hatten.  

Etwa die, wie sie zusammen mit ihrem Auto Richtung Brenner gefahren waren, Marina hochschwanger, er ganz nahe neben ihr sitzend, dabei fast das Strampeln des Babys in ihrem Bauch spürend, das nicht von ihm war. Und sie mit hohem Tempo gefahren, so dass er schon Angst bekommen hatte, dass etwas passieren könnte. Dann hatte er sie wieder aus den Augen verloren. Später erst, mit dem inzwischen schon größeren Kind wieder mal wo getroffen. Und sie hatte noch nach diesem und jenem gefragt, was aus ihnen geworden sei, ob er noch wisse, sich daran erinnern könne, und der war so ein … und die erst war doch so eine … Ehe sie ihm einen Schmatz auf die Wange gedrückt hatte und wieder weitermusste, zu einem Sterbenden vielleicht, wie sie nicht sagte, nein, nur, dass sie es eilig hatte.

Und ihr Körper erschien ihm immer noch schön, obwohl sie „schon so viel an ihm herumkorrigiert“ hatte, wie sie ihm in einem Nebensatz gestand, nachdem er ihr ein Kompliment betreffs ihres Aussehens gemacht hatte.  Bis sie dann eines Tages nur mehr Pizzas ausfuhr, als sie ihre Modelkarriere schon beendet hatte. Für kurze Zeit nur, aber eben um das notwendige Geld zu verdienen.  Als Pizzabotin machte sie eine gute Figur, dachte Moser. Und jetzt wird sie vielleicht selber manchmal eine Pizza mitbringen zu ihrem sterbenden Klienten oder Klientin oder Kunden, oder wie das nun heißen mochte. Und diese neben ihm verzehren, warum auch nicht, dachte Moser. Und ihm oder ihr dabei Höhepunkte ihres bewegten Lebens auf dem Laufsteg erzählen. Oder dann, wenn sie sich mal chinesisches Fastfood mitbrachte, dem oder der Sterbenden noch das in diesem verborgene Glückskeks auf die schweißnasse Stirn legen und ihm ein letztes „lebe wohl!“ sagen.  

So war seine Geschichte über Marina, so dachte er sie sich jedenfalls. Und träumte des Nachts davon, wie ein plötzlicher Windstoß einen blühenden Baum durchfuhr, so dass alle seine Blüten mit einem Mal nach oben geflogen waren, ehe sie sich nach Abklingen des Windstoßes wieder darauf senkten, so dass es aussah, wie wenn nichts geschehen wäre.

Moser war nach dem Gespräch nach Hause gegangen und hatte im Stiegenhaus seine neue Nachbarin getroffen, die er gerne mal näher kennengelernt hätte. Aber nicht wusste, wie er es anstellen sollte. Sie grüßten sich und wünschten sich noch einen guten Tag. Mehr war nicht drinnen in der Kürze der Begegnung. Ob er sie einfach mal auf einen Drink hätte einladen sollen? Aber hier im Stiegenhaus, das noch dazu unangenehm, weil wenig durchlüftet, roch? Und wenn die neue Nachbarin gesagt hätte, bleiben wir uns lieber fremd, dann wissen wir weniger voneinander? Wie hätte er das ausgehalten? Darauf reagiert? Mit einem (gefrorenem?) Lächeln auf seinen Lippen?

So war Moser noch mal weggegangen, in die Wirtschaft gleich am Eck der Straße, wo er wohnte. Er trank ein Bier und dachte nach. Über Marina. Über die neue Nachbarin, ehe er die Zeitung zu lesen begann. Dann beobachtete er die Kellnerin, wie sie es sich selbst in einer der leeren Sitzecken des Lokals bequem machte, ein Bier trank und ihm freundlich dabei zulächelte.  Er freute sich darüber, dass sie ihm zum Lesen der Zeitung das Licht heller gedimmt hatte. Im Licht lag bekanntlich der Anfang von allem.

© Helmut Schiestl

Helmut Schiestl

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