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„Sind Sie im Sozialbereich tätig?“

Thermometer knapp über Null GradNach einer Lesung in der Innenstadt und einem längeren Plausch mit dem Veranstalter stolperte ich gestern spätnachts nach hause. Ich wählte unter anderen den Weg zwischen Krankenkasse und Viaduktbögen. Doch: da liegt wer auf dem Boden. Ich mache Halt. Es ist ein mir schon bekannter Obdachloser. Stark alkoholisiert hat er es nicht mehr in irgendeine städtische Herbere geschafft und sich, so wie er ist – ohne jede Schlafunterlage oder gar Schlafsack – einfach an einer Hausmauer auf den Boden gelegt, um zu schlafen. Bei den Temperaturen gestern Nacht (rund um null Grad) womöglich sein letzter Schlaf.

Ich versuche, ihn zu wecken. Er brabbelt etwas von „is mir wurscht, lass mich liegen, passt schon, is eh wurscht“. Nein, ist nicht wurscht, denke ich mir. Lege meine Jacke über ihn und wähle die 144. Nun bin auch ich es, der friert. Ich mache den „Fehler“ und sage, dass hier ein stark alkoholisierter Obdachloser liege der zu erfrieren drohe weil er die Kälte nicht mitbekommt. Statt einen Rettungswagen los zu schicken, verbindet mich der Herr in der Leitstelle – so schnell kann ich gar nicht schauen – mit der Polizei. Komisch, denke ich mir, und schildere nun einem Polizisten, dass ich bitte einen Rettungswagen geschickt haben möchte, weil da jemand zu erfrieren droht.

Während ich telefoniere zeigt sich wieder einmal die hässliche Fratze unserer Gesellschaft: zwei Radfahrerinnen fahren an dem am Boden liegenden mit den Worten „he’s just sleeping“ vorbei, ein Anderer geht wortlos, aber einen Kepab in sich hinein würgend, ebenfalls vorbei. Nur einer gestikuliert, ob ich eh grad mit der Rettung telefoniere. „Ja“, signalisiere ich ihm, auch wenn ich komischerweise die Polizei dran habe.

Nach 13 Minuten kommen dann auch tatsächlich zwei Polizisten und wollen dem am Boden liegenden klar machen, dass er hier nicht liegen bleiben kann. Als sie sehen, dass das ein hoffnungsloses Unterfangen ist, fordern sie einen Rettungswagen an. Sie bedanken sich bei mir und einer fragt mich: „Sind Sie im Sozialbereich tätig?“ „Nein“, antworte ich, „ich gehe nur mit offenen Augen durch die Welt“. Den Obdachlosen in guten Händen wissend (die Nacht hat er schließlich in der Klinik verbracht) mache ich mich auf den Heimweg. Und ärgere mich.

Ich ärgere mich wieder einmal über jene, die an einem auf dem Boden Liegenden einfach vorbei gehen. Noch viel mehr ärgere ich mich aber über die Leitstelle, die, nachdem ich von einem „auf dem Boden liegenden Obdachlosen“ gesprochen habe, statt eines Rettungswagens die Polizei schickt. Eines ist mir nun auch klar: Beim nächsten auf dem Boden liegenden Obdachlosen werde ich einen „gestürzten Touristen“ melden. Und nein, ich bin nicht im Sozialbereich tätig. Der Mitarbeiter der Leitstelle, der statt der Rettung die Polizei alarmierte, ganz gewiss auch nicht.

Markus Koschuh

10 Comments

  1. Ich glaube das alles und sofort, obwohl den ersten Stein werfen ja nicht die beste Methode ist, aber schon bevor uns von der Gesellschaft Ausgeschlossenen – aus vielerlei Gründen – die Rechte entzogen und wir von anderen Parteien als Stimmvolk erkannt wurden, war Grün die beste Alternative.

  2. Mir ist im Sommer etwas Ähnliches passiert. In der Nähe vom Sillpark, bei der Bahnhofseinfahrt, lag ein Mann auf dem Boden, sein Körper war gekrümmt und angespannt, er war sehr betrunken (da lagen Flaschen und Dosen um ihn herum), kaum noch bei Bewusstsein und er hatte Schaum vor dem Mund. Ich wusste nicht ob er verletzt war, da hab ich die Rettung angerufen. Die Notrufstelle freute sich nicht gerade über meinen Anruf, ich hatte das Gefühl etwas falsch zu machen. Mehrere Menschen blieben aber stehen, vor allem junge, und fragten, ob sie helfen könnten, eine Frau blieb mit mir vor Ort und wartete auf den Notarzt. Der Rettungswagen kam an, zwei Männer stiegen aus, legten Handschuhe an, sahen sich aus der Distanz den Mann an und fragten mich „Ja, und was sollen mir jetzt tuan?“ – und schüttelten den Kopf. Ich hatte immer noch das Gefühl etwas falsch gemacht zu haben..

  3. Es ist nur noch zum kotzen, und die in solchen Leitstellen sitzen werden wir mal Nachtens durch die kleinen feinen Gässchen von Innsbruck schicken. Ich bin auch nicht im Sozialbereich tätig,aber ich bin mit meinem Team sehr stark sozial engagiert . Haben Handtücher Duschtücher Duschgel Shampoons und Decken und selber gestrickte Socken ins Alexihaus gebracht. Was es nur ist, etwas Zeitaufwand und damit Freude gebracht

  4. Post an die provi-Redaktion: Dieses Mail ging an die Rettung, cc an uns, soll aber anonym veröffentlicht werden:

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    ich schätze die Arbeit und die Bemühungen der Rettungsdienste in Innsbruck sehr. Umso mehr verwundert und schockiert mich dieser persönliche Bericht. Ich bitte Sie daher höflichst um eine Stellungnahme. Warum hat die Leitstelle so gehandelt? Ich frage deshalb, weil ich im Falle eines Notfalls nicht in Verlegenheit geraten möchte, beim Anruf bei der Rettung überlegen zu müssen, ob ich erwähnen soll, dass es sich um eine obdachlose Person handelt oder nicht.

    http://provinnsbruck.at/allgemein/sind-sie-im-sozialbereich-taetig/

    Mit freundlichen Grüßen
    (Name der Redaktion bekannt)

  5. Bin mir nicht so sicher, ob das Diskriminierung war und falsch.
    Das Aggressionslevel ist hoch bei vielen Betrunkenen, auch die Polizei bzw. nur die Polizei darf wen im Zweifelsfall trotzdem mitnehmen.
    (So wie nur die Feuerwehr einbrechen darf anscheinend, anscheinend auf Anordnung der Polizei – hörte mehrmals sowas letzte Zeit.)

    Und bzgl. der Nachfrage:
    In Innsbruck ist man vieles „gewöhnt“; erfrieren fast jeden Winter Menschen; sieht man auch aufgrund der Grösse der Stadt und der Anzahl der Obdachlosen so etwas häufig.
    Schmälert das Engagement ja nicht, sondern ist ein Kompliment, dass nicht weggeschaut wurde.

    Bin auf jeden Fall auf die Stellungnahme gespannt.

  6. Auch wenn solche Dinge einem sehr zu Herzen gehen können, darf mann/frau es sich nicht allzu einfach machen – Frage: mit welchem Auftrag betrauen sie die „Rettung“ wenn ein schwer alkoholisierter beschließt ein Nickerchen zu halten und dies auch kundtut? – Die „Rettung“ ist in erster Linie ein Instrument zur „Ersten Hilfe“ und die Klinik für Krankenbehandlung & Unfallbehandlung eingerichtet- keine „Notschlafstelle“…..Solltet ihr dem Herren wirklich helfen wollen sucht ihn untertags und versucht ihn von einem ernsthaften Entzug zu überzeugen – sogar dies unterstützt das „System“ z.b. Psychiatrien, Kalksburg usw. und die Herbergen werden ihn dann auch gerne wieder aufnehmen – manche Menschen nehmen sich leider oft auch selbst mit aller Gewalt aus dem System – Letztlich handelt es sich klinisch gesehen einfach nur um einen schwer „Süchtigen“ dessen Leben ausser Kontrolle geraten ist und nicht mal mehr in der Lage ist die helfende Hand die ihm gereicht auch zuzupacken und festzuhalten…Selbst „Sozialverreine“ haben gewisse Regeln wie z.b. „wenn du bei uns schlafen willst – dann komm nicht schwer alkoholisiert oder unter Drogeneinfluss bzw. versuch es zumindest“…Ein letzter Rest von „Wille“ und sozialem Verhalten muß schon erkennbar sein – dann hilft das „System“ auch wo es kann…wer mitspielen will muss die Regeln beachten – Aber das wissen ernsthafte Menschen die wirklich im Sozialbereich tätig sind und nicht nur ständig anprangern „wie unsozial“ all die anderen sind…..Und auch wenn dies als „couragiert“ empfunden wird – Es war nur ein schnelles (Handy)Telefonat um die Verantwortung an wem anderen abzugeben – in diesem Fall an die Rettung – nur kann auch die Rettung od. Polizei die Welt nicht retten…

    • lieber martin,

      für menschen in gesundheitlich lebensbedrohlichen situationen ist in österreich schon immer noch die rettung zuständig. oder wie kommts, dass ein betrunkener gast auf einer skipiste bei anbruch der dunkelheit gleich von einem helikopter gerettet wird? soviel zu wir sind alle gleich und gleicher.

      deiner weiteren argumentation entenehme ich, dass du dich noch nie im ansatz, mit menschen, die im sozialbereich arbeiten und solche, die deren unterstützung in anspruch nehmen, in einer gewissen empathischen intensität auseinandergesetzt hast. das ist sehr bedauerlich.

      du argumentierst wie menschen die sagen, wir haben eh chancengleichheit im schulsystem, müssen halt die migrantInnen bzw. kinder aus sozial schwachem elternhaus a bissl mehr lernen, dann können sie auch ärzte und anwälte werden. oder auch vergleichbar: die frauen sind ja selber schuld, wenn sie weniger verdienen, weil die meisten nur einer teilzeitbeschäftigung nachgehen.

      sorry, aber da hab ich echt zu kämpfen, dass das frühstück nicht hochkommt bei so viel ignoranz. ich wünsche dir, nie ähnliche erfahrungen zu machen, wie sie dieser mann gemacht hat. mögest du immer gesund, sozial abgesichert und von menschen aufgefangen sein. das wünsch ich dir und jedem anderen von ganzem herzen.

      • Lieber Dani

        …es wird Zeit, dass du deine Klischees und politische Erziehung ein wenig ablegst und deinen Arxxx hochbringst deine Statements auch in der Realität zu prüfen! – Nichts gegen Hr. Koschuh, aber Hr. Koschuh ist Kabarettist und tatsächlich nicht in einem Sozialverein tätig, sonst hätte er sich diesen Artikel wahrscheinlich auch erspart – siehe den hervorragenden Kommentar von Mike (besonders 2.ter Absatz!)…

  7. Lieber Dani !

    Dein Statement ist fern von jeder Realität, da habe ich auch zu kämpfen, dass das Frühstück nicht hochkommt bei so wenig Systemkenntnis! Unser Sozialsystem wird täglich missbraucht, Martin Kapferer hat vollkommen recht, wo würden wir hinkommen wenn sich jeder nur noch auf den Anderen verlässt und Verantwortungsbewusstsein gleich „abschieben auf den Nächsten“ ist? Warum hat unser „couragierter“ und überaus sozialer Hr. Koschuh dem offensichtlich unverletzten Obdachlosen (der gar keine Hilfe wollte) nicht bei ihm zu Hause eine Übernachtungsmöglichkeit geboten?

    Nein, Beim nach Hause „stolpern“ ein Problem gemacht wo es keines gab, schnell das Handy gezückt, die Verantwortung abgegeben, das eigene Sozialgewissen beruhigt, danach noch über Gesellschaft die gemault und Menschen diskreditiert, die mit ihrer Arbeit genau dieses Sozialsystem erst möglich machen. Ein Geniestreich – BRAVO ! Und ja, ich arbeite im Sozialbereich !

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