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Leben

      Irgendwann wird der Mensch einfach ein lächerliches Stück Dreck sein, dachte Neumayr. Einer wie er, der nichts hatte, kaum Geld, von dem er leben konnte, sich jeden Monat die Miete und sich jeden Tag ein Mittagessen leisten. So einer wird eines Tages einfach weggeworfen werden wie ein Stück Dreck, und man wird zu ihm einfach sagen, dass er ein Stück Dreck ist, ja dass für so einen wie ihn einfach kein Platz mehr ist auf der Welt. Dass er nur anderen, besseren als er, gescheiteren und geschickteren als er, nur den Arbeitsplatz wegnehmen wird, die Wohnung wegnehmen wird, den Platz zum Leben wegnehmen wird. Weil so einer wie er in den siebziger Jahren groß geworden sei, wo es einfach geheißen hätte: Wachset und vermehret euch, oder: Betrachtet die Vögel des Himmels, sie säen nicht und sie ernten nicht, und doch hat der himmlische Vater für sie gesorgt. Weil er zu denen gehören würde, die einfach die Hände in den Schoß legen würden und darauf warteten, dass irgendeiner kommen wird und etwas für sie tun.
 
   Dass sich dann, wenn’s brenzlig wird, schon eine Lösung finden würde. Dass, wenn Feuer unterm Arsch wäre, dann derjenige oder diejenige kommen und einem in letzter Minute sozusagen, noch die brennende Unterhose vom Arsch herunterreißen würde. Für so einen sei nun aber leider kein Platz mehr. So einer wie er hätte noch nie, in seinem ganzen Leben noch nie, gecheckt, dass er selbst etwas tun müsste für sein Glück und sein Fortkommen. Aber es geschah nichts. Er blieb der, der er war. Dazu gab es immer wieder Begegnungen und Berührungen und Erregungen, und alles kam zu seiner vollen Blüte, und Erregung berührte sich mit Erregung und blieb dabei doch am Ende solitär und gab so Anlass für vielerlei Deutungen, blieb in der Klammer der Unaufgelöstheit. Neumayr verdammte sich und verwünschte sich. Neumayr dachte, dass er sich das nicht verdient hätte.
 
        Was hatte er in seinem Altern vom Leben noch zu erwarten? Was konnte da noch geschehen? Jeden Tag spazieren gehen. In den Wald gehen. Pilze und Beeren pflücken vielleicht. Später dann, wenn ihn die Füße nicht mehr trugen, in den Park, auf einer Bank sitzen und die Vögel füttern, die Tauben, die Sperlinge und Meisen, den jungen Frauen nachschauen. Den Minirock wird es ja dann immer noch geben. Und dann, wenn er noch älter geworden sein wird, und selbst das zu mühsam sein wird, zu Hause sitzt, beim Fenster hinausschaut, beobachtet. Warten auf die Heimhilfe, die jeden Tag kommen wird und ihm ein Essen macht, vielleicht ein junges nettes Mädchen mit einem grazilen Lächeln auf den Lippen und netzbestrumpften Beinen. Um noch später dann von einem Arzt abgelöst zu werden, der ihm, nachdem er seine Personalien aufgenommen und ihm eine Unterschrift abgenötigt hat, eine Spritze ansetzen wird, eine Giftampulle.
 
       Es wird ein langsamer aber kein grausamer, kein schmerzhafter Tod sein, und er wird froh sein, dass er diesen Tod sterben darf und nicht einen anderen, bösen, gewalttätigen, den vielleicht viele seiner Altersgenossen sterben werden, erschlagen auf einer Parkbank etwa oder in der Passage eines Kaufhauses von völlig durchgeknallten Jugendlichen, wegen ein paar Cent vielleicht, oder als lebende Krebsleiche unter Morphium dahindämmernd. Und all sein Wissen wird ihm nichts mehr nützen. Nein, so ist es doch viel netter.
 
      Der Arzt spricht mit ihm, ehe er die Spritze ansetzt. Er erzählt ihm ein wenig von seinem Leben. Dass sein jüngster gerade Matura gemacht hat, oder seine Tochter gerade die Tanzschule besucht. Oder er erzählt ihm delikate Einzelheiten aus seiner Affäre mit der Sprechstundenhilfe, weil er das, das er doch gern loswerden will, hier am besten loswerden kann, weil er sich nur hier bei Neumayr sicher sein kann, dass seine Affäre nicht aufkommt, von niemandem seiner Frau oder seinen Kindern weitererzählt werden wird. Oder er wird Neumayr fragen, ob er gestern Abend das Fußballspiel X gegen Y gesehen hat. Und er wird, weil er ein alter Fußballfan ist, ein paar schöne Aktionen des Spielers X und einen schweren Fehler des Spielers kommentieren, und Neumayr würde sich in einer anderen Situation vielleicht eine Diskussion mit dem Arzt beginnen, über das Spiel, das sie gestern abend gesehen haben.
 
      Jetzt aber, jetzt ist es für so was zu spät, und Neumayr wird zu dem ganzen Spiel, das er gar nicht gesehen hat oder gesehen, aber nicht mehr richtig mitbekommen, nicht mehr bemerkt, wer eigentlich Gewinner war, oder es schon wieder vergessen, er wird die Schilderung des Spieles durch den Arzt vielleicht nur mit einem „so so“, oder „aha“ kommentieren, so dass dieser schließlich die Spritze mit dem Beruhigungsmittel ansetzen wird, die Neumayr in einen feinen und beruhigenden Schlaf versetzt, ehe der Arzt das eigentliche Gift in Neumayrs Vene injiziert, das ihn aus seinem Leben hinausbefördert, oder das Leben aus seinen Körper hinausbläst, wie ein sanfter Hauch, den er nicht mehr spüren wird. Während im Hintergrund unauffällig schon zwei Bestattungsgehilfen sich daran machen, den mitgebrachten Sarg zu öffnen, nachdem sie zuvor ein wenig in der mit vielen überflüssigen Dingen vollgefüllten Wohnung Platz dafür gemacht haben, den Sarg hingestellt, den Zippverschluss der durchsichtigen Cellophanhülle geöffnet mit einem schnellen und kaum hörbaren Geräusch. Und Neumayr wird lächeln, wenn er es noch hört, aber wahrscheinlich hört er es sowieso nicht mehr. Auch nicht den Gesang der Amsel, die sich an seinem Fenster niedergelassen hat und ein Lied in den Abend hineintrillert. Und er schläft ein und wartet auf das, was kommen wird. Und nichts wird einen Sinn gehabt haben, und wird je noch einen haben..
 
      Nun aber war es noch nicht so weit. Noch hatte er ein bisschen Leben vor sich, vielleicht auch noch einiges an Schönem, das es zu nützen galt. Wenn er wollte.
 
© Helmut Schiestl

Helmut Schiestl

5 Comments

  1.  Dieser Text bringt zum Nachdenken: Eine alternde Gesellschaft, in der immer mehr Menschen alleine alt werden. Zugleich dieses Durchdringen aller Lebensbereiche mit der neoliberalen Propaganda: Sei nützlich – sei effizient – haste was, bist was etc. 

     

    Die Alten, die Arbeitsunfähigen und -unwilligen, die Tachinierer, TräumerInnen und Eigenwilligen: Weg damit. Wir schaffen den neuen Menschen: leistungswillig, flexibel, kalkuliert und dynamisch: http://www.youtube.com/watch

  2. … war zu Allerheiligen auf dem Grab, habe die schönen Blumen bewundert. Alle Kerzen haben gebrannt und eine ungeheuerliche Friedlichkeit verbreitet. Alles wirkte sehr lebendig. Ja, lebendig. Wir blieben nicht nur an unserem Grab stehen, sondern waren durch die schöne Stimmung verleitet, auch die anderen Gräber zu bewundern. Hier ruht Lilly, verstorben am 10. Oktober 2011. Es lag ein rosaroter Plüschteddy, in einen Kreis schöner Blumen eingebettet, auf dem Grab. Man bleibt stehen, ist erschüttert. Muss fast anfangen zu weinen. Man ist selbst Mutter und kann sich nicht vorstellen, wie eine Mutter diesen Schmerz verkraften soll. Ein Grab ist besonders schön. Der Mann ist vor 10 Jahren verstorben und die Liebe strahlt, als hätte die Frau ihn vorgestern kennengelernt und er sie gestern verlassen. Liebe und Frieden. So war das Empfinden auf diesem Friedhof. Trotz Trauer ein schönes Gefühl. Es gibt Hoffnung. Auf der Heimreise bewundert man die schöne Landschaft, freut sich über das Wunder, ein Kind zu haben. Genießt jeden Atemzug und fest dazu entschlossen dankbar mit seinem Leben umzugehen.

  3.  guter text, heli! sehr guter text!

    (nur, dass die bestattungsgehilfen sicher noch nicht warten, während der arzt das gift spritzt: weil erst nach eintritt des todes mind. 3 stunden vergehen müssen bis der amtsarzt die totenbeschau vornimmt und den leichnam für die bestattung freigibt, wenn er nicht eine obduktion anordnet. nur so am rande: wir kommen erst, wenn ein arzt nach feststellung der sicheren todeszeichen den sicheren  tod festgestellt hat und das dauert ein paar stunden.

    achja: der sack ist auch nicht durchsichtig und ein guter bestatter verwendet auch keinen sack mehr, wenn es nicht ganz unbedingt nötig ist.)

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      Ja, da hätte ich Dich vorher zu Rate ziehen müssen. Aber so realistisch ist der Text dann ja auch wieder nicht, eher eine Art  Zukunftsvision vielleicht. Aber das bringt mich auch auf eine Szene im Film "Atmen", den Du ja auch besprochen hast. Da kommt ja auch die Bestattung zu einem Sterbenden (Junky?) auf einen belebten Platz, und die Frau will sie gleich vom Platz weisen, Das mag da eben auch noch als fimlische Freiheit durchgehen.

      •  zu der szene in atmen: nein, das war in meiner wahrnehmung kein junky, sondern eben ein irgenwie auf der straße verstorbener mensch (herztod, aortenaneurysma oder was auch immer) und die frau war seine frau, schwester, mutter, freundin, die mit ihm unterwegs war.

        er ist schon tot, die bestattung wird informiert und der notarzt reanimiert noch weiter, obwohl nix mehr zu machen ist, einfach um zu signalisieren, wir tun eh alles, was wir können … für die frau heißt das natürlich: es gibt noch hoffnung und in dem schock, in dem sie ist …. klar, dass sie dann aggressiv reagiert, wenn die bestatter mit dem notsarg kommen. eine szene aus dem leben!

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