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Leben

Und wieder hatte er eine Wut. Und beschimpfte eine Frau, so eine dumme Kuh, die ihn im Bus nicht neben ihr sitzen ließ, sondern sofort den Fuß herauftat, so daß für ihn kein Platz mehr war. Das ärgerte ihn maßlos und er beschimpfte sie und sagte zu ihr, daß er nichts dafür könne, wenn er so aussehe wie er aussehe – was natürlich erst bewiesen werden mußte -, aber trotzdem: „Das ganze ist eine Schweinerei,  und wie das Leben eine Schweinerei ist!“ sagte er.  Und dabei gibt es immer noch Menschen, die behaupten, das Leben wäre etwas Schönes, etwas Erhabenes, dabei ist es für wahrscheinlich 80% der Menschheit einfach nur Dreck. Sie selbst fühlen sich wie Dreck und das Leben ist für sie Dreck, und sie sind froh, wenn sie es hinter sich gebracht haben. Nur dass der es beschließende Tod durch das Nichtvorhandensein von Leben selbst in seiner miesesten Form sich davon unterscheidet,  hält die Todesbegeisterung bei der Mehrheit der Bevölkerung (noch) in Grenzen. Aber vielleicht ändert sich das ab dem Moment, wenn es der Wissenschaft einmal wirklich gelungen ist, etwas Verbindliches oder Konkretes über den Tod auszusagen, entweder dass er eben wirklich ein Nichts ist oder dass es „danach“ eben doch irgendwie weitergeht.

Wenn zweites wahr ist, dann gibt es wohl kein Halten mehr, dann heißt es wohl nur mehr Kofferpacken und auf in die bessere Welt. Ohne viel Federlesens, ohne langes Herumgerede und Herumphilosophieren wird dann einfach der nächste Zug nach dorthin bestiegen und der Platz eingenommen – egal ob es ein Fensterplatz ist oder nicht – Hauptsache die Fahrt geht ab, die Reise kann beginnen. Auf zu neuen Ufern!, wird die Losung lauten, oder: „Leben, wir haben dich satt, so satt!“, oder ganz einfach: Leben,  ahoi!“ Und niemand wird sie mehr aufhalten können, die Heerscharen der Flüchtenden, weder die Religion und ihre Priester, noch die Ärzte und schon gar nicht die Therapeuten. Auf und davon wird es überall heißen. Die Städte werden sich leeren, die Häuser, die Cafés, die Tanzlokale, die Vergnügungsstätten überhaupt. Alle werden sie dem einen Ausgang zuströmen, so daß dieser bald einmal verstopft sein wird, so daß es ein großes Drängeln und Drängen geben wird, aber alle werden es schließlich schaffen, keiner wird zurückbleiben, was sollte er auch in einer völlig entvölkerten Welt alleine machen?  Es wird ihm dann nichts mehr einfallen, er wird dann mit einem Mal ganz einsam sein. Oder wird er etwa an diesem Moment in einen Glückstaumel fallen? Sich etwa darüber freuen, daß er nun endlich allein ist? Völlig und ganz allein? Und nun erst die Welt so richtig genießen kann? Wäre auch das eine Perspektive?

Dann aber wieder … war es vorbei mit der Schweinerei. Er betrat das Stiegenhaus und traf eine Frau, jung und hübsch. Wer war sie wohl? Er sprach sie an: „Entschuldigen Sie vielmals, es tut mir aufrichtig leid, aber… Sie müssen wissen, ich bin jetzt sechsundvierzig Jahre alt, sechsundvierzig Jahre ja, und ich denke jeden Tag nach, jeden Tag denke ich nach, und wie ich nachdenke, meine liebe Frau, und … ja seit ich lebe, denke ich, und das jetzt schon sechsundvierzig Jahre, meine liebe Frau, seit ich lebe, meine Liebe, das können Sie mir glauben, meine liebe Frau, also seit ich lebe, denke ich nach über alles … die Welt, und das Sein und das Leben usw.,  also mir fällt nichts ein, nichts, verstehen Sie, meine liebe Frau, nichts, einfach nichts, was dem Körper einer jungen schönen Frau gleichkommen würde, nichts, verstehen Sie, auf dieser ganzen Welt einfach nichts, es tut mir leid, meine liebe Frau, wirklich, ehrlich und aufrichtig, aber ich habe nichts gefunden, einfach nichts, was dem gleichkommen würde, was Ihrer Schönheit gleichkommen würde zum Beispiel, da ist einfach nichts. Das können Sie sich nicht vorstellen, ich denke und denke, ja es tut mir leid, aufrichtig leid tut mir das, daß es einfach nichts … aber es ist so und ich kann es nicht ändern, ich kann es wirklich nicht ändern, und es ist einfach … wie soll ich es sagen, Sie verstehen es nicht, nein, Sie können es nicht verstehen …“ Da aber war es der jungen schönen Frau zu viel geworden und sie nahm eiligen Schrittes die letzten Reste der Treppe, sperrte hastig und vielleicht auch nervös ihre Wohnung auf,  verschwand eiligst in diese hinein und schloß die Tür hinter sich,  den Mann unbedankt weiterreden lassend. Dieser ging  nun ebenfalls die Treppe hoch, verschwand nun ebenfalls in seine Wohnung und bereitete sich sein Abendessen.

 

Helmut Schiestl

Helmut Schiestl

One Comment

  1. Lieber Helmut, nicht Post von Jeannée (trotz der brisanten politischen Lage derzeit in Österreich) enthält mein Kommentar zu deiner trotz des schwierigen Frau-Mann-Themas so erstaunlich souverän geschriebenen, über im Tertium comarationis Phettberg hinausragenden Allerseelen-Predigt.

    Ad 1) Ein utopischer Gegentext zur ersten Passage deines Textes könnte so lauten:

    Als der Mann, dein erzählerischer Er, in einen Bus einsteigt, ist nur ein Platz neben einem schwindligen Haberer neben dessen Fenstersitz frei und einer auf der anderen Seite neben einer ebenfalls am Fenster platzierten Französin, die nicht – wie einige – eine Tasche auf ihren Nebensitz gelegt hat.
    Wie Buridans Esel zwischen zwei hier allerdings ungleichen Heubüscheln fast verhungernd, nimmt ihm die kristalläugige Maid mittels ihrer Schokoladebeine die Entscheidung ab und lässt vernehmen: „Setz dich doch neben mich, du süßer Racker! Der hinter mir versucht immer wieder, meine Haare an meine Rücklehne zu binden. Sei bitte Beschützer und Patron meiner Haare!“ – Gesagt, getan! Der Mann verpflanzt sich neben die nach schnell erfolgter eigener Aussage ohne Arsen jungverwitwete lockere Mähnige und gründet mit ihr gemeinsam (nicht In-Vitro) eine Familie mit mehr Kindern als Maria Theresia und mit ausreichend Geld und mit mehr Autos als Maria Theresia, obwohl manche Frauen eine Wohnung wichtiger finden beim Mann als ein Auto.

    Ad 2) Selbst wenn einmal die Existenz eines Weiterlebens nach dem Tod intersubjektiv nachvollziehbar erwiesen wäre, würden gewisse Fachärzte dann im Hinblick auf vieler Selbstgefährdung dennoch nicht arbeitslos.
    Ad 3) Wer bekommt schon gern einen Korb! – so wie der „Looser“-Held deiner Kurz-Geschichte gleich zweimal: erst im Bus und dann nochmals in der dritten Textpassage im Stiegenhaus, einem Ort der nicht immer erfreulichsten Begegnungen und Wortwechsel.
    In Brentanos und von Arnims „Volkslied“sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1806/08) heißt es im von Gustav Mahler bekanntlich [!] in dessen 2. Symphonie in c-moll [!], der „Auferstehungssymphonie“, mit Singstimme vertonten vierten Satz im Gedicht „Urlicht“, aus dem Gedächtnis zitiert:

    […]
    Da kam ich auf einen breiten Weg.
    Da kam ein Engelein und wollt‘ mich abweisen.
    Doch nein, ich ließ mich nicht abweisen,
    doch nein, ich ließ mich nicht abweisen.
    Ich bin von Gott und will wieder zu Gott,
    der liebe Gott wird mir ein Lichtlein geben,
    wird leuchten mir bis in mein ewig selig Leben.

    Über die vielen Körbe, die Menschen einander flechten, kann die Einsicht hinwegtrösten, dass sogenannte äußere Schönheit bei Frau UND MANN sich oft reziprok, nicht parallel zu inneren Eigenheiten (z. B. Geiz) verhält, und das konkrete Zusammenleben dann mit nach offiziellem Ideal SchönlingInnen zunehmend offenbart, wie sehr etwa Einstellungen, Wünsche, Ziele, Unternehmungsvorlieben, Arbeiten und Hobbies oft weit auseinanderklaffen und Streit überhandnimmt. Geht er etwa gern golfen, frönt sie womöglich lieber dem Minigolfsport – ob nun mit oder ohne Mini.
    Profanes Exempel: Cathy, ehemals Lugner, wollte, dass Richard Lugner sich noch einmal um das Amt des Bundespräsidenten bewirbt. Als sie nach dem dann noch schlechteren Ergebnis als früher nicht First Lady wurde, beklagte er weinerlich, nur sie habe seine zweite Kandidatur gewollt – scheidungsmitentscheidend.
    Und der Protagonist im Stiegenhaus anerkennt erkenntniskritischerweise nur, dass entsprechender Jungschönheit nichts Adäquates entspricht („gleichkommt“), behauptet jedoch nicht ästhetizistisch, dass äußerer Glanz alles andere in den Schatten stellt und übertrifft.
    So übertrumpft schätzungsweise der Gesichtspunkt „Leben“, entsprechend dem Titel des besinnlich-phantasievollen Textbeitrags unseres Autors, alles Speziellere in seiner Vielfalt, wie immer sich das fallweise äußern mag.

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