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Fetisch, Irritation und die Universitäts- und Landesbibliothek Tirol

Aus einem stillen Ort des Studiums und des Wissens ist ein ruheloses, einem Ameisenhaufentreiben ähnelndes Getümmel geworden. Es handelt sich hierbei weniger um ein quantitatives Problem, nämlich die ständig steigenden Studentenzahlen, als vielmehr um ein qualitatives. Der wenig besprochene Unterschied zwischen Wissenschaftlern und allen anderen Normalsterblichen besteht tatsächlich im Sitzfleisch. Die Disziplin, die notwendig ist, um sich stundenlang dem geschriebenen Wort widmen zu können, bildet dieses, von mir so verehrte, Sitzfleisch.
Was nun in unserer schnelllebigen, digitalen Zeit den wissenschaftlichen Hintern gefährdet, sind vor allem zwei gravierende Faktoren. Zum besseren Verständnis möchte ich vorweg eine kleine Fetischdefinition ausführen. Fetischismus begründet sich in der Verlagerung von Wertigkeiten. Wenn also beispielsweise plötzlich sämtliche leidenschaftliche Emotionen eines Menschen in einen Schuh fließen, kann man davon ausgehen, dass hier ein ordnungsgemäßer Fetisch im Gange ist. Bezieht sich der Fetisch jedoch auf ein elektronisches Medium und wird dieses auf allen Informationsebenen als lebenserleichternd und vorteilhaft propagiert, kann sich ein gesellschaftlich akzeptierter Fetischismus herausbilden, der unauffällig Teil des Lebensstils wird.
I-Phones und I-Pods sind freilich nur ein vorübergehendes Ergebnis einer Entwicklung, die sich schon vor vielen Jahren abgezeichnet hat. Mit den ersten technischen Apparaturen, die mittels eines Schalters in Gang zu setzen waren, wurde der Grundstein für den „Knopfdrückfetischismus“ gelegt. Ich vermute, dass die damit verbundene Unsichtbarmachung von Arbeitsvorgängen, der Ursprung für die Wertverlagerung ist. In dieser Verschleierung findet eine Entwertung statt, die anderswo zum Tragen kommen muss. Es mag dem notorisch SMS schreibenden Menschen weit hergeholt vorkommen, dass seine „Knopfdrückgeilheit“, zumal er diese an sich selbst erkennen kann, im weitesten Sinne daher rührt, dass seinerzeit eine Reihe von Arbeitsschritten notwendig waren, um einen beschreibbaren Stoff herzustellen, jenen zu erwerben und zu beschreiben, wohin gegen nun sämtliche Prozesse von Maschinen erledigt werden. Und eben weil dieser Zusammenhang weit weg ist, muss ich ihn auch von weit her holen.
Jeder Prozess, der uns abgenommen wird, muss auf irgendeine Weise von uns ersetzt werden, denn unsere Seelen sehnen sich nach einer selbstständigen Ordnung der Dinge, also nach der Herstellung sämtlicher Zusammenhänge, damit wir uns  selbst mit der Welt verbunden fühlen können, der wir uns ja schließlich verdanken. Um nun zum zweiten gravierenden Faktor zu kommen, ist zu sagen, dass Fetischismus eine Form von Irritation ist, also nicht nur eine Wertverlagerung, sondern auch eine Ablenkung vom ursprünglichen Zusammenhang.
Somit ist der Fetisch nichts anderes als die Geilheit auf die Ablenkung. Diese Verbindung – Irritation und Fetisch  –  bewirken eine Deplatzierung der Hornhaut des Studentenhinterns auf dessen Fingerkuppen. Seit 10 Jahren bin ich nun Bibliothekar an der Uni-Bibliothek in Innsbruck und als ständiger Beobachter kann ich sagen, dass jede Generation noch mehr Ablenkung braucht. Wenn es einmal soweit ist, dass man sämtliche Wege im Leben mit Headset beschreitet, muss die Furcht vor der Stille des Seins und das Bedürfnis nach Ablenkung gewaltig sein. Ich wünsche allen Studierenden innere Ruhe für ein bewusstes Leben.

 

Verfasst von Haubentaucher


3 Comments

  1. danke für diesen scharfsinnigen beitrag! spätestens seit dem erscheinen des informativen wie amüsanten buches "dinge geregelt kriegen – ohne einen funken selbstdisziplin" von passig und lobo aus dem jahre 2008 ist der begriff "prokastrination" wohl auch im deutschen sprachraum in den otto-wortschatz eingezogen. das besonders interessante daran: so lange es gedauert hat, bis dieses nicht oder aber auch ganz einfach zu definierende phänomen (aufgaben hinauszuschieben) einen namen bekommen hat – erkannt konnte es am selbst daraufhin umso schneller werden – so lange dauert es noch immer an, dessen ursachen zu erfragen. studien über studien können laut autorin nicht eindeutig die wurzeln des sichtlich als symptomatisch zu verstehenden verhaltens der darunter leidenden erhellen und sind in ihren annahmen darüber zumeist gar gegensätzlich. "disziplinlosigkeit" – ein für jeden menschen scheinbar leicht erfassbarer begriff, konnte uns bisher "gute" dienste hierbei leisten. als dienlicher wird sich jedoch erweisen, diesem wort mal hinter die ohren zu schauen und das faustdicke zu finden. die diagnose verliert trotz ihrer schlichten, aber dogmatischen eleganz bei näherer betrachtung sehr schnell an substanz: die schon ewig bekannt geglaubte charakterschwäche transformierte zum drei-bis-vier-buchstabigen krankheitsbild und dieses wiederum mutiert nun hoffentlich bereits aus mangel an seltenheit zu etwas komplexerem. dieses "etwas" ist zu umfassend ausgeprägt, alsdass es unreflektiert und auf einzelne personen bezogen als wort verpackt behandelt werden könnte.

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