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Es ist genug für alle da

Gestern Vormittag vor der Annasäule: Kistenweise werden Obst und Gemüse, Brot und Snacks, Fertiggerichte, Joghurt sowie weitere Leckereien ausgelegt. Auch wenn viele vorerst noch ein bisschen schüchtern schauen, beginnen sich bald die Ersten zu bedienen. Ein bisschen seltsam ist es schon, denn die Lebensmittel sind allesamt gratis – jede/r darf nach Herzenslust zugreifen. Fast unwillkürlich kommt einem der dümmliche Werbeslogan „Ich hab‘ ja nichts zu verschenken“ in den Sinn. Vielleicht sind es gerade solche Sprüche – „Geiz ist geil“ ist ein weiterer –, die unsere Welt kälter und unmenschlicher machen.

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In Innsbruck werden wie in jeder anderen Großstadt der westlichen Industriestaaten täglich Tonnen von Lebensmitteln weggeworfen: Obwohl die meisten auch einige Zeit nach dem Ablaufdatum noch gut schmecken und bedenkenlos genießbar sind, müssen sie aus den Verkaufsregalen entfernt werden: In unserer Überflussgesellschaft müssen Verkaufsprodukte superfrisch und makellos sein – die Supermarktketten kalkulieren eine bestimmte Menge an „Wegwerfwaren“ schon in ihre Preisgestaltung ein. Auch die Nahrungsmittelindustrie produziert von vielem viel zu viel, will aber auch die Preise künstlich hoch halten.

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Zugleich leben auch in Innsbruck viele Menschen, die kaum genug zu essen haben und sich oft mit Kartoffeln oder ähnlich billigen Nahrungsmitteln über Wasser halten. Der Sozialmarkt in der Adamgasse wird regelmäßig gestürmt: Immer mehr Menschen müssen mit kleinsten Pensionen oder der Notstandshilfe auskommen. Die Lebensmittelketten lassen Produkte, die abgelaufen oder leicht beschädigt sind, lieber verbrennen, als sie gratis abzugeben. Schließlich hat man eben „nichts zu verschenken“  – man kann ja nicht einfach die wachsende Zahl der Bedürftigen gratis versorgen, während man von der zahlenden Kundschaft gutes Geld verlangt.

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Unsere Gesellschaft ist langsam, aber sicher am Zerreißen: Während nach dem Weltkrieg sozialer Ausgleich (nicht unbedingt gleichzusetzen mit echter Gerechtigkeit) für alle politischen Parteien unbestritten war, hat sich inzwischen der neoliberale Zeitgeist durchgesetzt. Während immer mehr kaum mit ihrem Einkommen über die Runden kommen, beansprucht eine schmale Schicht von Vermögenden immer mehr vom Kuchen: Für Superreiche ist Österreich (keine Erbschafts- und Vermögenssteuer, steuerlich begüstigte Stiftungen etc.) geradezu ein „Steuerparadies“  – während durchschnittliche Arbeitnehmer(innen) unter einer extrem hohen Steuerquote leiden.

So gelungen und erfolgreich die Aktion von Wegwerfgesellschaft, Food-Sharing und Kostnix war, zeigt sie doch auf, dass in unserer Gesellschaft etwas grundlegend falsch läuft. Demokratie kann nur in einer sozial gerechten Gesellschaft Bestand haben, deshalb sollten wir Wohlstand fairteilen statt zu geizen und zu raffen: Die Qualität einer Gesellschaft lässt sich am Besten daran feststellen, wie sie ihre Benachteiligten und Ausgegrenzten behandelt.

Andreas Wiesinger

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