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Der Traum

Er rief K. an. Er wusste nicht, ob die Nummer noch stimmte, die er von ihr hatte. Die SMS, die er ihr geschickt hatte, hatte sie jedenfalls nicht beantwortet. Aber das musste nichts heißen. Also dachte er, bevor ich in ihre Wohnung gehe und sie dabei bei irgendeiner Tätigkeit überrasche, oder auch einfach nur ungelegen komme, rufe ich sie lieber an. Aber sie meldete sich nicht.

Er hatte von K. geträumt letzte Nacht. Und der Traum war insofern seltsam gewesen, als er sie bei einer Vernissage getroffen hatte, wo sie dann beide in weiterer Folge auf einer Couch zu liegen gekommen waren, zumindest K. hatte sich hingelegt, vielleicht weil sie müde gewesen war. Und nach einigen Minuten des belanglosen Gesprächs hatte sich K.s Rock zurückgeschoben, so dass er ein rotes Furunkel auf ihrem rechten Oberschenkel sah, über das er erschrak.  Er hatte das bei K. nicht vermutet, war er doch immer davon ausgegangen, dass K. – die ja eine sehr hübsche Frau war – eine schöne und makellose Haut hatte. Und schon hätte er ihr am liebsten eine Frage dazu gestellt, besann sich im letzten Moment dann aber doch noch und tat es nicht.

Er liebte K., und das sollte auch so bleiben, dachte er. Das Furunkel sollte da jetzt keinen Störfaktor abgeben. Vielleicht wollte K. dass er es sah, damit er „bescheid wusste“ über sie, so dachte er. Sie wollte ihm nichts verheimlichen und ihn dann vielleicht mit dieser Hautveränderung enttäuschen, wenn er sie nicht rechtzeitig bei ihr wahrgenommen hätte. Zugleich aber war es auch ein frivoles Spiel gewesen, das K. da mit ihm in diesem Traum gespielt hatte.  Jedenfalls hatte er sich am Morgen dieses frivole Spiel K.s nicht erklären können. War ihrer beider Beziehung zueinander doch eher fragil gewesen, und in realen Leben hätte K. sich ihm wohl nie in einer so aufreizenden Pose gezeigt, dazu war ihre Freundschaft doch viel zu unbestimmt gewesen.

Ärgerlicherweise war er durch irgendein Geräusch aus dem Traum aufgewacht, der also noch weitergegangen wäre, und deshalb beschäftigte ihn die Frage, wie wäre der Traum wohl weitergegangen. Wären K. und er sich vielleicht in diesem Traum noch nähergekommen? Wäre diese Geste von K. vielleicht eine Einladung an ihn gewesen, sie zu berühren, ihre Schenkel zu liebkosen, auch ihr Furunkel, das sie da trug? Sie zu lieben? Wer konnte ihm das jetzt noch sagen?

Oder hätte er sich gar am Ende von dem Furunkel auf ihrem Schenkel geekelt? Was er nicht glauben wollte. Oder einfach, er wollte nicht glauben, was er sah, oder er konnte auch nicht glauben, was er träumte. So war der Traum am Ende so unaufgelöst wie ungeklärt geblieben und genauso unvollendet wie der, den er eine Nacht vorher geträumt hatte, und der darin bestanden hatte, dass die alte Pendeluhr im Schlafzimmer seiner Eltern nicht mehr funktionierte. Der Vater hatte sie nicht mehr aufgezogen, und daran war sie zerbrochen – so hatte es ihm zumindest die Mutter gesagt. Sie war darüber „aus Kummer gestorben“, so seine Mutter zu ihm. Das Glas war kaputtgegangen, ein Zeiger abgebrochen, und als er das Gehäuse öffnete, sah er, dass die Schlagfeder darin lose am Boden lag. Das Werk stand still, wie er bei genauerem Inspizieren desselben sehen konnte. Wahrscheinlich war die Feder gebrochen. Dann war er aufgewacht. Und alles Weitere war offengeblieben.

Jetzt aber war Schweigen in der telefonischen Verbindung zu K.  Nur der übliche Piepton, der auf eine Antwort wartete. Die aber nicht kam. Vielleicht war K. gar nicht in der Stadt gewesen, vielleicht nicht einmal im Lande. Hätte er doch zu ihr gehen sollen? Einfach „Hallo“ zu ihr sagen. Sie hätte ihm aufgemacht und hätte ihm Kaffee gekocht oder ein Bier eingeschenkt. Hätte ihn umarmt und sich über sein Kommen gefreut. Und er hätte sich nach ihrem Befinden erkundigt, und sie sich nach dem seinen.

Er hätte sie nach dem Fortschritt ihrer Dissertation befragt, an der sie schon länger schrieb. Sie wären vor dem Fenster gesessen und hätten vielleicht den Sonnenuntergang beobachtet oder den aufgehenden Mond. Und irgendwann hätte er sie wahrscheinlich berührt, am Arm vielleicht, ganz sanft, und sie hätte ihm zugelächelt.

Helmut Schiestl

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