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Der Faschingsdissident

Der Faschingsdissident
oder (frei nach Gershwin)
Ein Tiroler in Graz (Eine poetische Urlaubsrechenschaft)

Er floh die Enklave Innsbruck, nicht ohne über Häufen verschluckter Wortsilben zu stolpern, und urlaubte alternsbewusst erstmals in Graz.
Laurenz wünschte sich, dort eine nicht zu einseitige Landschaft und eine durchmischtere, mit Wortspenden nicht geizende Mentalität zu entdecken.
Das Murbecken nahm den hypoaktiven Gaumensegler ähnlich unkehlig auf wie die Rezeptionistin des wohltemperierten Hotels. Den rätselhaften Temperaturregler seines Zimmers beherrschte er auf ihren bloßen Tipp hin leider von selber, und eine Frühstücks-Niederösterreicherin bejahte seine Frage, ob ihr Innsbrucker Ex-Freund wenig geredet und dafür umso mehr gearbeitet hätte.
Am Jungfernabend identifizierte er an der Bar der Färberei verzückt den Grünen-Reanimator Kogler, wohl mit der kirchengrünen, mit Bischof Krautwaschl verwandten Lokalmathadorspielerin in EU-wahltaktische Gespräche versunken. Erfolgreich den allgegenwärtigen Bauernbundball umgehend, machte er am Hauptplatz im Dunkel der Nacht nicht nur mit hohen Tischchen sehr kommunikativ umgebene Imbissbuden aus, sondern auch ein durch Händchenhaltung sich verratendes junges Frauenpaar, das nach dem samstagmorgigen Erklimmen des Schlossbergs seinen Aufenthalt im Gastgarten beim Uhrturm nun wie im Zauberlehrling mit einem zweiten Paar ebenfalls aufwertete. Von deren Hochzeitsplänen abgelenkt, empfahl Laurenz der ukrainischen Kellnerin einen Pufferstaat zwischen ihrer Heimat und Putinland und sprach sie auf ihre pianistische Rachmaninoff-Begeisterung an. Nachmittags verfolgte ihn die Frauenquadrille auch noch vor einem Café am Freiheitsplatz gegenüber dem Schauspielhaus.
Mittlerweile hatte sich auf die Glatze des Erzherzog-Johann-Brunnendenkmals am Hauptplatz unbemerkt eine Taube gesetzt – eine hier schon ausgespeicherte Wahrnehmung. Dafür pflanzte eine Libroverkäuferin ihre gewichtige Kollegin noblerweise als schwanger, und Laurenz wünschte der gutes Gelingen für die Geburt. Die diversen Würste brachten dem ehernen Herzog mit ihren olfaktorischen Talenten ein würdiges Ständchen.
Eine dufte Straßenbahn-Wallfahrt zur Basilika Mariatrost, um den österreichischen Bischöfen für ihre einst dort verkündete Erlaubnis persönlichen Gewissens bezüglich Empfängnisregelung zu danken, hätte den Tag verkürzt, ein würzigerer Gang zur mit Anastasius Grün sprücheversehrten Kirche Maria Grün von einem Tramhalt aus laut einer mutmaßlich für die KPÖ votierenden Frau noch zwanzig Minuten gedauert.
Solch ehrgeizigen Zielen den Rücken kehrend, strebte Laurenz mit der Tram wieder dem Zentrum zu. Aus Platzmangel musste er sich neben eine Steirerin und ihrer Mutter gegenüber setzen, die sich jedoch, als er sie fragte, ob sie nun am Leechwald oder am Botanischen Garten gerade vorbeifuhren, akustisch als Schweizerinnen entpuppten. Und die Tochter hatte offensichtlich noch eine Lizenz zur potenziellen Schweizermacherin.
Die vielen großen, freien und menschenberuhigten Plätze in Graz machen Fremde ansprechbarer.
Sonntag vormittags überführte Laurenz an einer Haltestelle den altersbedingt nunmehr unbebrillten Altbürgermeister Stingl seiner Identität, und kombinierte, dass dieser als christlich-sozialdemokratische Persönlichkeit wohl soeben von der Stadtpfarrkirche kam, nicht ohne einst Altbischof Weber gegenüber eine kollektive Liebeserklärung ausgesprochen zu haben. Er grüßte Laurenz, bevor der ihn fix erkannte. Auch an den freiheitlichen Altbürgermeister Götz erinnerte sich Laurenz, den er ebenso nur vom Fernsehen kannte, wenn da statt Christ in der Zeit die Belangsendung Götz in der Zeit lief, wo Götz seinerzeit verkündigte: Ich meine, dass sich so etwas wie Glück nicht in Paragraphen oder Schillingbeträgen ausdrücken lässt. Nach dieser idealistischen Aufbäumung hatte jedoch auch der um seine damals gerade abgeschafften Pensionsprivilegien prozessiert, dachte da Laurenz über mythisch verklärte Idealvergangenheit nach.
Der Nachmittag gehörte dem Stadtpark, wo unser Mann aus Innanna die Gelegenheit ergriff, eine auf einer Nebenbank sitzende Jungmutti – das klingt so wie Jungschweinebraten – wegen ihrer Minigitarre anzureden. Doch die um drei im Grazer Opernhaus beginnende Oper Martha entschwand ihm dadurch (Martha, Martha, du entschwandest) – durch diese eben nicht Letzte Rose – und er ihr, und zwar in die der Oper gegenüberliegende evangelische Heilandskirche, in der ihm, wie für ihn von der Vorsehung aufgelegt, der Brief mit Superintendent Bünkers Bunkerstimmung wegen der Karfreitag-Feiertagsneoregelung ins Auge sprang.
Am Montag war die im Palais Meran untergebrachte Musikakademie vor Laurenz nicht sicher. Darin fand er nicht nur musikphilosophische Vorlesungen vor, sondern ebenso eine Broschüre mit einer Ehrung für einen großen mit Graz verbundenen Mann – nein, nicht für den heutzutage äußerst aktuellen Leopold von Sacher-Masoch, sondern:
Hätte Franz I. Stephan von Lothringen, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation, und Erzherzog Johann die Fähigkeit ausgezeichnet, solch grimmigen Grimassen schneiden zu können wie ihr sie an Bedeutung überragender Nachkomme Nikolaus Harnoncourt, der Grimassenschneider und Orchesterdrescher unter den Dirigenten, hätte sich Friedrich der Preuße später nicht an Schlesien herangetraut und der Korse sich nicht in ständigem Diakonat an die ohnehin bedrückende und allzu nahe und steile, dynamitresistente Nordkette anbinden lassen.
An den Ort seiner Tat, den Stadtpark noch einmal zurückgekehrt, besuchte Laurenz das blumenübersäte Denkmal von Robert Stolz und unserem Stolz auf ihn. Trotz des relativ lauten Verkehrs in der angrenzenden Elisabethstraße ging ihm nicht aus dem Sinn: Du, du, du sollst der Kaiser meiner Seele sein,/ Du, du, du sollst der Purpur meiner Träume sein – Grazer Wohllebensklang, in sich ruhend, gemütlich und leicht herb, aber offen und unbekümmert.
Am Gipfel seines Grazurlaubs geriet Laurenz – fernab vom Innsbrucker Rustikofasching, an dem mittlerweile wegen der in Tirol immer schon befürchteten sexuellen Anschläge auf den noch dazu ohnehin zugänglicheren matratzenstrohblonden Trafikantinnentyp kein Umzug mehr stattfand – in einen ausgelassen-lebensfreudigen, gelöst niveauvollen, thematischen, aber nicht zu klischeehaft politischen Grazer Fasching hinein.
Die breite Herrengasse durchströmte ein phantasievoll-kreativer Umzug mit angesichts der geplanten Staustufe Graz durchschwimmenden Natursportlern – Fischen -, Paddlern und einer Ruderregatta für Wassersport auf der Mur einschließlich einem auf einem Auto auf einem Surfbrett hockenden, lockenden und lockenbekränzten paddelnden Blumenmädchen. Ein Quallen- wie auch ein Gewitterwolken-Frauentrio schlossen sich an, Vögel tanzten den Vogeltanz, ein Vogel auf Stelzen führte ein kleineres Menschenweibchen mit dem Kopf in einem Vogelkäfig vielsagend an der Leine, frischgrüne Landeskinder tanzten einen höfischen Reigen; aber auch Polterer assistierten einer Limousine, anspielungsreiche trojanische Pferde und Bundestrojaner traten auf, an die Mondlandung ´69 wurde erinnert, eine Nonne trug innovativ einen G.R.R. Martin-Schinken bei sich, Mexikaner trampelten eine Papp-Mauer herbei, und drei Jung-Frauen vermittelten bei alibihalber dezenter musikalischer Untermalung, aber in freizügigem Outfit einen Hauch von brasilianischem Samba-Karneval – für Laurenz Menschen wie wir und eben ein Eräugnis. In dieser Faschingsnachhilfe vermisste er lediglich nicht-begnadigte Kalifornier. Jungungarn blinkten rot mit ihrem Heiligenschein, und in einem Färberplatz-Lokal umfasste wie als Abrundung ein Typ Laurenz von hinten, jedoch nicht, dessen Befürchtung gemäß, um ihn zu erdolchen, sondern um ihm eine Faschingsschürze umzubinden, von der ihm jenes Freundin, nicht ohne ein paar Bussis heischend, empfahl, sie weiterhin zu tragen oder weiterzugeben.

von Michael Voldrich

 

 

April 2019

Gast

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